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21.1.2008: nachrichten
21.1.2008
Weltwoche: «Je dicker, desto gesünder»

Diese Woche in der «Weltwoche»: Wissenschaftler zweifeln, ob Dicksein ungesund ist. Aktueller Forschungsstand: Ein paar Kilos mehr verlängern das Leben - Übergewicht schadet nicht.




Gemäss den USA-Centers for Desease Control «senkt leichtes Übergewicht (Bild) die Sterblichkeitsrate».

Der Weltwoche-Titel «Je dicker, desto gesünder» schiesst aber weit übers Ziel hinaus. Adipositas kann durchaus zu Folgekrankheiten und Organversagen führen. «Leichtes Übergewicht» dagegen ist allenfalls ein leichter Risikofaktor und galt im Mittelalter als Schönheitsideal bzw Beweis für Wohlernährung.


Übergewicht, hämmern Gesundheitspolitiker, Ernährungsberaterinnen, Frauenzeitschriften und Diätindustrie auf uns ein, ist gefährlich. Dicksein sei ungesund, führe zu zahlreichen Krankheiten und sei eigentlich selber schon eine Krankheit. Daher müssten die Kilos an Bauch, Hüften und Waden unerbittlich bekämpft werden. Am besten von Kindesbeinen an.

Jedes fünfte Mädchen und jeder sechste Knabe seien übergewichtig, heisst es bei der schweizerischen Gesellschaft für Ernährung. Schüler werden aufgefordert, Bewegungs- und Ernährungstagebücher zu führen. Und auch die Erwachsenen sollen aufhören, spontan ihrem Appetit nachzugeben. Denn, so das Bundesamt für Statistik, 38,7 Prozent der Schweizer trügen mehr Speck an sich, als sie sollten. Die Gesundheitsfolgen der allgemeinen Verfettung kosteten die Volkswirtschaft mehrere Milliarden Franken pro Jahr.

Doch während das Problembewusstsein weiter genährt wird und die Warnungen immer schriller klingen, schmilzt die wissenschaftliche Faktenbasis wie Fett auf dem Grill. Übergewicht, sagt eine wachsende Zahl von Experten, mag ästhetisch misslich sein, gesundheitsschädlich ist es nicht. Diese überraschende Erkenntnis wird durch immer mehr Studien erhärtet. Im November 2007 erklärten das amerikanische National Cancer Institute und die Centers for Desease Control, dass leichtes Übergewicht die Sterblichkeitsrate senke. Die Gesundheitsdaten von zwei Millionen US-Bürgern wurden dafür ausgewertet.

Zu den zahlreichen Krankheiten, die bei Pummeligen seltener auftreten, gehören Parkinson, Lungenkrebs und Alzheimer. Herz- und Kreislaufprobleme waren allerdings ausgenommen. Doch selbst diese Ausnahme ist heftig umstritten, denn eine grosse Studie amerikanischer Herz- und Kreislaufspezialisten und Internisten, die 2006 in der Medizinzeitschrift Lancet veröffentlicht wurde, räumt noch radikaler mit dem Mythos vom ungesunden Übergewicht auf. Die Experten hatten vierzig Forschungsarbeiten ausgewertet, die Daten von über 250000 Patienten enthielten. Fazit: Übergewichtige sind nicht nur insgesamt gesünder, sondern sterben sogar seltener an Herz- und Kreislaufkrankheiten.

Für die zweite Lebenshälfte gilt: Je dicker ein Mensch ist, desto höher seine Lebenserwartung. Die Ursache dafür ist vermutlich, dass die Dicken im Krankheitsfall etwas zuzusetzen haben. Riskant ist dagegen Untergewicht. Wer dick und gesund ist, sollte sich besser nicht zu Diäten zwingen. Denn radikales Abnehmen erhöht das statistische Risiko, früher zu sterben, deutlich, so die Forschungsresultate des dänischen Epidemiologen Thorkild Sørensen.

Auch eine deutsch-schweizerische Studie an 1676 Herzpatienten, die im Sommer 2007 veröffentlicht wurde, bestätigt die verblüffenden Nachrichten aus Amerika und Dänemark. Ihr Ergebnis: Patienten mit normalem Körpergewicht weisen in den ersten drei Jahren nach einer Behandlung eine doppelt so hohe Sterblichkeitsrate auf wie Fettleibige.

Der BMI, das Mass aller Dinge

Rund ist gesund – kann das wahr sein? Wenn sich die neuen medizinischen Erkenntnisse weiter erhärten, entfällt die Grundlage für Diätkampagnen, kalorienarme Schulspeisungen und behördliche Ernährungsratgeber. Ein bisschen mehr Skepsis hätte schon früher gutgetan, denn die Datenlage ist keinesfalls so klar, wie uns die Schlankheitsprediger weismachen. Grundlage aller Statistiken ist der BMI (Body-Mass-Index).

Der BMI wird errechnet, indem man das Gewicht eines Menschen durch seine Grösse hoch zwei teilt. Ein BMI unter 19 bedeutet Untergewicht, der Normalbereich liegt zwischen 19 und 25, oberhalb dessen beginnt das Übergewicht. Doch der BMI ist nicht mehr als ein grober Richtwert, der den unterschiedlichen Körperbau der Menschen und die Verteilung der Kilos zwischen Muskulatur und Fett nicht berücksichtigt.

Aber das ist noch das geringste Problem. «Die Qualität der Daten über Massenverfettung lässt an vielen Stellen zu wünschen übrig», kritisiert der Lebensmittelchemiker und Bestsellerautor Udo Pollmer («Lexikon der populären Ernährungsirrtümer »). Auch das Robert-Koch-Institut kritisierte die ungenauen Befragungsmethoden bei der Ermittlung der deutschen Zahlen. Unter anderem wurde die – grösstenteils schlanke – Altersgruppen der 18- bis 24-Jährigen einfach weggelassen.

Mediziner der Universität München machten darauf aufmerksam, dass ein Teil der Verfettung westeuropäischer Gesellschaften eine Folge der Einwanderung ist. Menschen aus Südosteuropa, zum Beispiel der Türkei, haben im Durchschnitt einen anderen Körperbau und sind rundlicher. Viele türkische Kinder in den Schulen heben den statistischen BMI, ohne dass sich bei den restlichen Kindern etwas geändert hätte.

Hauptsache, schön dramatisch

Merkwürdig, dass die Angst vor zu vielen Dicken ausgerechnet in einer Zeit aufkommt, wo der Trend zur gesunden Ernährung unübersehbar ist. Der Fett- und Fleischkonsum im alten Europa sinkt, der Verbrauch von Obst und Gemüse steigt seit Jahren an. Auch das will nicht recht zur Verfettungsthese passen. Wie bei vielen öffentlichen Erregungswellen ist es hilfreich, einmal die Zeitungen von gestern aus dem Archiv zu holen. So schrieb Bild der Wissenschaft 1976: «Von den Kleinkindern sind 17 Prozent der Jungen und 16 Prozent der Mädchen überernährt, im Schulalter ist bereits ein Viertel der Kinder zu dick.» Wie solche Zahlen zustande kommen, scheint niemanden zu interessieren, Hauptsache, sie klingen schön dramatisch.

Dabei ist noch nicht einmal gesichert, ob viel Essen und Bewegungsmangel tatsächlich dick machen. Natürlich klingt das sehr plausibel: Wer viel isst und keinen Sport treibt, wird dick. Diese Meinung hat sich unter Laien und Experten gleichermassen durchgesetzt – bewiesen ist sie allerdings nicht. Im Gegenteil: Die Hinweise mehren sich, dass beim Fettansetzen ganz andere biologische Prozesse die Hauptrolle spielen.

Nach dem Stand der Forschung ist das Körpergewicht eines Menschen zu 50 bis 80 Prozent genetisch bedingt. Eine grosse Rolle scheint auch Stress zu spielen, und zwar in beide Richtungen: Dicke werden dicker, wenn sie unglücklich oder psychisch überlastet sind, Dünne dagegen dünner. Experimente mit Ratten haben gezeigt, dass zu wenig Schlaf dick macht. Das Gleiche ergab eine Studie mit menschlichen Probanden. Die Ursache ist vermutlich hormonell, denn Schlafmangel stört den Cortisolrhythmus.

«Die Rolle von Ernährung und Bewegung wird überschätzt», sagt Pollmer, «die Rolle der Hormone unterschätzt. Stresshormone und Sexualhormone steuern unser Gewicht.» Aus der Tiermast ist bekannt, dass der Bauer die Gewichtszunahme durch Hormongaben steigern kann. Die Tiere setzen dann mehr an, obwohl sie weniger fressen.

Der menschliche Körper steuert seinen Wärmehaushalt sehr stark über die Durchblutung der Arme und Beine. Damit kann er jede Diät wirkungsvoll sabotieren. Kalorienfresser Nummer zwei nach der inneren Heizung ist das Gehirn. Denken und Fühlen kostet mehr Energie als die Betätigung der Muskulatur. Diese inneren Regelkreise des Organismus könnten die Erklärung sein, dass es bis heute keine Diät gibt, mit der man dauerhaft abnimmt. Wir versuchen unseren Körper auszutricksen, doch er trickst uns aus.

Die medizinische Debatte um das Phänomen Übergewicht ist längst noch nicht abgeschlossen, sie fängt erst an. Ästhetisch jedoch scheint die Sache eindeutig zu sein: Wer das andere Geschlecht beeindrucken will, sollte als Mann keinen runden Bauch und als Frau zusätzlich keinen dicken Po und schlanke Oberschenkel haben. Lediglich in Form von Busen gilt weibliches Körperfett als sexy. Und weil das angeblich so ist, sind fast alle erfolgreichen Filmschauspielerinnen superschlank, die Models in der Werbung dünn und die Mannequins auf den Laufstegen klapperdürr.

Der Wunsch abzunehmen ernährt milliardenschwere Industrien. «Wenn wir in einer Ausgabe keine neue Diät auf dem Titel bringen», sagt eine leitende Redaktorin eines grossen Frauenmagazins, «sinkt der Kioskverkauf sofort.» Die ästhetische Körpernorm scheint hauptsächlich sozial konstruiert zu sein. Gesundheitspolitische Kampagnen stützen sich auf zeitgeistige Schönheitsideale und soziale Vorbehalte. Wer dick ist, gilt als arm und dumm, davon möchte sich der karrierebewusste Aufsteiger aus der Mittelschicht absetzen.

Dieser pädagogische Feldzug gegen die Dicken bleibt nicht ohne Opfer. Unverkrampft essen wird zur Sünde, die sich mit der Angst vor Sexualität vermischt. Das Ergebnis sind Magersucht, Ess-Brech-Sucht und Essstörungen aller Art, die seit einiger Zeit auch bei männlichen Jugendlichen zunehmen. Neuste Variante: Orthorexia nervosa – das krankhaft übertriebene Verlangen, sich gesund zu ernähren. Das Regiment der Diätgurus und Ernährungspädagoginnen ist nicht so wohltuend, wie uns bunte Broschüren einreden. Etwas läuft schief, wenn schon Fünfjährige Kalorien zählen, wenn schon im Kindergarten Appetit nicht mehr als spontaner Impuls zugelassen wird und Essen nur noch als kontrollierte Handlung stattfindet.

Text: Auszug aus dem Bericht in der Weltwoche vom 17.1.08. Bild: foodaktuell.ch

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