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Varia
12.4.2011
Cassis-de-Dijon: Wer verliert, wer profitiert?



Das Cassis-de-Dijon-Prinzip ist noch kein Jahr in Kraft. Bereits wird klar, dass damit Schweizer Vorschriften unterwandert werden. Statt billiger sind die neuen Produkte nur weniger wert. Bericht in zwei Teilen: Teil 2.



3. Hohe Preise, tiefer Fall?

Die Gründe für die hohen Preise sind vielschichtig und lassen sich nicht nur mit höheren Qualitätsstandards begründen. So handelt es sich bei der Schweiz z.B. um einen kleinen Markt. Die Bestellmengen sind gering, Massenproduktion selten und die Konsumenten anspruchsvoll.

Zudem profitieren landwirtschaftliche Produkte von einem Zollschutz und Importkontingente wirken ebenfalls preistreibend. Grenzüberschreitende vertikale Abreden über Mindest- und/oder Festpreise, Gebietszuweisungen und marktbeherrschende Stellungen fördern den Wettbewerb ebenfalls nicht. Bauvorschriften und Genehmigungshürden, aber auch das Verbandsbeschwerderecht im weiteren Sinne tragen das ihre zum hohen Kostenumfeld bei.

Dass die Schweiz nicht gerade billig ist, ist zur Genüge bekannt. Doch was warum um wie viel teurer ist, ist nicht immer klar. Das SECO hat deshalb im Jahr 2008 eine Studie zur Hochpreisinsel Schweiz erstellt und dabei die allgemeinen Preisniveaus mehrerer Länder verglichen. Wie erwartet nahm die Schweiz im europäischen Vergleich und innerhalb der OECD einen Spitzenplatz ein. Im Jahr 2005 kam die Schweiz im Vergleich zur EU-15 (100 Punkte) auf 125,4 Indexpunkte. Die Schweiz lag damit hinter Island (138,4 Punkte) und Dänemark (129,1) und ziemlich gleichauf mit Norwegen (124,7).

3.1 Realeinkommen als Preistreiber?

In seinem Bericht zum Cassis-de-Dijon-Prinzip wollte der Bundesrat das Vorurteil widerlegen, dass hohe Realeinkommen zu höheren Preisniveaus führen. Er führte dazu Luxemburg als Beispiel an, ein Land, das ebenfalls wie eine Insel inmitten der EU liegt und dennoch ein viel günstigeres Preisniveau hat, obwohl der Finanzplatz die Realeinkommen dort mindestens so hoch treibt wie in der Schweiz. Die Differenz zur EU-15 betrug 2003 in Luxemburg nur 11 Punkte, in der Schweiz dagegen 33 Punkte. Doch der Vergleich hinkt. Dass die Warenpreise in Luxemburg quasi auf gleicher Höhe liegen wie in der EU15, liegt wohl weniger an der Abschottung als an der Landesgrösse: Bei einem Heimmarkt von gerade mal 300'000 Einwohnern lohnt sich eine abschottende Regulierung nämlich gar nicht.

3.2 Die Schweiz ist (nicht nur) teurer

Dabei hat sich in den letzen Jahren einiges getan. Zehn Jahre zuvor, also 1995, lag die Schweiz nämlich noch bei 145,6 Punkten. Zudem ist das Bild nicht ganz einheitlich: Bei "Waren insgesamt” war die Schweiz nämlich nur rund 15 % teurer. Dienstleistungen kosten in der Schweiz dagegen beinahe 150 Prozent gegenüber der EU. Bereits auf EU-Preisniveau gesunken sind die Preise der von Firmen gekauften Maschinen und Geräte, dem Privatverkehr oder bei Genussmitteln. Schuhe, Bekleidung und Möbel / Haushaltgegenstände / Haushaltführung kosten in der Schweiz rund 10 % mehr als im EU-Mittel.

Es gibt aber auch Güter, die in der Schweiz deutlich billiger sind als in der EU. In der Stichprobe zur SECO-Studie waren z.B. CDs und Personenwaagen fast 30 %, Neonröhren, Pflanzendünger, Benzin und ein Körperpflegeprodukt 20 %, Laptops, Damenunterwäsche und eine Uhr immerhin noch 10 % günstiger als in der EU.

3.3 Grosses Potential, kleine Wirkung

Der Bundesrat schrieb 2004 in seinem Bericht zum Cassis-de-Dijon-Prinzip: "Könnten die einzelnen Wirtschaftszweige ihre Vorleistungen aus dem In- und Ausland zu EU-Preisen kaufen und würden in der Schweiz EU-Produzentenpreise gelten, dann würden die Unternehmen im Einkauf rund 65 Mrd. CHF pro Jahr einsparen. Das wären 15% bis über 30% ihrer Kosten für Vorleistungen, in der Nahrungsmittelindustrie sogar 45%. Würden diese Kosteneinsparungen an die Kunden weitergegeben, würden die Haushalte an Kaufkraft gewinnen.”

Könnten, würden, hätten: Es ist kein Zufall, dass die Aussagen so vage formuliert sind. Denn so wenig wie sich hohe Preise auf einzelne Faktoren reduzieren lassen, so wenig lassen sie sich gleichzeitig aus der Welt schaffen. Auf ein grosses Einsparpotential hat der Bund freiwillig verzichtet: Arzneimittel sind vom Cassis-de-Dijon-Prinzip ausgenommen. Weiterhin müssen Medikamente, die sich auf der sogenannten Spezialitätenliste befinden, dem Patienten von den Krankenkassen zu einem festgelegten Preis erstattet werden.

Seit dem 1. Juli 2009 sind Parallelimporte patentgeschützter Güter in die Schweiz erlaubt. Seither hat sich an der Preisfront ein bisschen was bewegt. Möglichweise bekommt der Parallelimport mit dem Cassis-de-Dijon-Prinzip neuen Schub. Derzeit sorgt der starke Schweizer Franken dafür, dass der Einkauf im grenznahen Ausland für die Schweizer wieder attraktiver wurde. Langfristig sollten zumindest die Importeure diese Preissenkungen im Einkauf an die Konsumenten weitergeben. Es wird also schwierig, Preissenkungen auf das Cassis-de-Dijon-Prinzip allein zurückzuführen.

3.4 Nichts ist umsonst

In der Botschaft zur Einführung des Cassis-de-Dijon-Prinzips ging der Bund noch von Einsparungen in Höhe von rund 2,6 Milliarden aus; in der Vernehmlassung war dann von zwei Milliarden die Rede. Das dürfte reichlich überschätzt sein. In Kombination mit der konsequenten Umsetzung anderer, bereits getroffener Reformen wie der Verschärfung des Kartellrechts, der Zulassung von Parallelimporten etc. kann das Cassis-de-Dijon-Prinzip aber durchaus einen Teil dazu beitragen, dass die Hochpreisinsel Schweiz flacher wird. Der Aufwand für die Bewilligungen und die Kontrolle ist natürlich nicht gratis. Die Bundesverwaltung rechnet für die fünf Jahre dauernde Anfangsphase mit einem vorübergehenden Mehrbedarf von 2,65 Millionen Franken pro Jahr: elf Stellen beim Bund, plus eine Million Franken für Nachforschungen.

3.5 Wer verliert, wer profitiert?

Dank Cassis-de-Dijon-Prinzip kommt die Industrie zu günstigeren Vorleistungen und kann der Detailhandel seine Waren billiger beschaffen. Das SECO schätzt, dass im Bereich Bekleidung und Schuhe 100% der Importe unter das Cassis-de-Dijon-Prinzip fallen. Bei Haushaltsartikeln sind es 89% (ausgenommen sind v.a. Spielzeuge) und im Nahrungsmittelbereich 52%. Trotzdem wird man das im Bekleidungsdetailhandel kaum spüren, denn das Preisniveau ist in der Schweiz kaum höher als im benachbarten Ausland. Im Haushaltsbereich (Möbel, Haushaltsgeräte, Geschirr etc.) sieht das anders aus: Gemäss einer Studie des BAK Basel mussten die Schweizerinnen und Schweizer 2005 in diesem Bereich im Vergleich zu unseren Nachbarn zwischen 9% (Italien) und 17% (Deutschland) tiefer in die Tasche greifen.

Beim Stichwort Cassis-de-Dijon denken die meisten Leute an Lebensmittel. Hier sind die Preisunterschiede teilweise tatsächlich gross. Nahrungsmitteln (ohne Alkohol) waren 2006 in der Schweiz 23% bis 35% teurer gegenüber Italien bzw. Deutschland und Frankreich. Doch während Haushaltsartikel vielfach in China hergestellt werden, stammen Lebensmittel zu einem grossen Teil aus der Schweiz. Schon deshalb ist fraglich, ob sich diese Differenz tatsächlich stark verringern lässt. Zudem sind die Schweizer Konsumentinnen und Konsumenten bei Lebensmitteln anspruchsvoller, auch was die Produktinformation betrifft. Die Grossverteiler werden sich beispielsweise hüten, nur einsprachig beschriftete Importprodukte im grossen Stil in die Schweizer Regale zu stellen.

3.5.1 Harddiscounter im Vorteil

Die Detailhändler haben sich stets für eine Einführung des Cassis-de-Dijon-Prinzips stark gemacht. Dabei profitieren sie in unterschiedlichem Ausmass davon. Coop importiert viele Markenprodukte aus der EU und ist deshalb daran interessiert, das Potenzial der Beteiligung an der europäischen Einkaufsgemeinschaft Coopernic via Cassis-de-Dijon noch stärker auszuschöpfen.

Migros fährt vor allem eine Eigenmarkenstrategie, da nützen vereinfachte Importe wenig. Sie wird vielmehr Kosten sparen, indem sie europäische Herstellungsvorschriften übernimmt. So stellt Migros Sirup mit einem tieferen Fruchtanteil her, und hat die Migros-Tochter Denner einen Schweizer Vollrahm im Sortiment, der nur 30 statt 35 % Milchfett aufweist. Aldi und Lidl können ihre im Ausland bewährten Eigenmarken nun ohne technische Handelshemmnisse in die Schweiz einführen. Die Harddiscounter werden vermutlich am meisten vom Cassis-de-Dijon-Prinzip profitieren. Ihre Konsumenten legen wohl ohnehin weniger Wert auf Extras, spezielle Kennzeichnungen oder hohe Qualität.

4. Gegenbewegung

Auf politischer Ebene wird das Cassis-de-Dijon-Prinzip inzwischen kritischer betrachtet. Bereits sechs Monate nach der Einführung reichte Nationalrat Erich von Siebenthal eine Motion ein mit dem Ziel, Lebensmittel vom Cassis-de-Dijon-Prinzip auszunehmen. Er fand, dass der hohe Standard der Produktsicherheit in der Schweiz gefährdet werde. Zudem würden den Konsumenten günstigere Preise vorgegaukelt, obschon es sich vielfach nur um qualitativ minderwertige Produkte handelt.

Die schweizerischen technischen Vorschriften würden de facto aufgehoben, weil sie sich dem Niveau desjenigen EU-Landes mit dem tiefsten gesetzlichen Standard anpassen. Und die Schweizer Exportindustrie würde gar benachteiligt, weil die EU die schweizerischen technischen Vorschriften nicht anerkennt. Nationalrat Jacques Bourgeois doppelte nach und fragte den Bundesrat, ob Produkte wirklich unter derselben Bezeichnung verkauft werden sollen wie Schweizer Produkte, auch wenn es sich dabei um ein gänzlich anderes Produkt handelt?

Die Beschwerden fanden beim Bundesrat bislang noch kein Gehör. Die Konsumentinnen könnten anhand der Produktinformation ja stets selbst entscheiden, welchem Produkt sie den Vorzug geben wollen. Allerdings scheint der Bundesrat nicht abgeneigt, die Ausnahmeliste zu vergrössern. Im Zusammenhang mit der Qualitätsstrategie sollten bewusst geschaffene, strengere Qualitätsanforderungen für die inländische Produktion nicht durch Massnahmen zur Verhinderung der Inländerdiskriminierung unterlaufen werden.

4.1 Qualitätsstrategie

Damit das Cassis-de-Dijon-Prinzip die Schweizer Herstellungsvorschriften – und damit die vom Bundesrat angestrebte Qualitätsstrategie für die Land- und Lebensmittelwirtschaft – nicht aushöhlt, muss im Gegenzug das Cassis-de-Dijon-Prinzip mit Ausnahmeregelungen unterwandert werden. Derzeit werden vom Bundesrat folgende Ausnahmen diskutiert:

Berg- und Alpprodukte: In der Schweiz gelten für Berg- und Alpkäse strenge Regeln. Die Milch muss zu wesentlichen Teilen aus dem Berggebiet stammen. Österreich legt das kulanter aus: Da darf auch noch Flachlandkäse als Berg- oder Alpprodukt vermarktet werden.

Gesüsster Wein: Das Schweizer Lebensmittelgesetz verbietet es, Weingetränke künstlich mit Zucker zu versetzen. In Tschechien ist dies jedoch erlaubt, folglich kann man es gemäss Cassis-de-Dijon-Prinzip den Schweizer Weinbauern nicht verbieten.

Bioprodukte: In der Schweiz ist die Gesamtbetrieblichkeit Vorschrift, mit Ausnahme der Dauerkulturen. In den meisten EU-Ländern kennt man dieses Gebot nicht. Wenn der Bundesrat sicherstellen will, dass Schweizer Bauern die strengeren Schweizer Regeln einhalten, muss er eine Ausnahme erlassen.

Wie diese Bereiche geregelt werden sollen, ist noch offen. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, bis hin zur Nicht-bewilligung entsprechender Zulassungsgesuche für die oben genannten Produkte.

4.2 Swissnessvorlage

Viel zu diskutieren gibt auch die "Swissness”-Vorlage, weil diese einen definierten Anteil an Schweizerischen Rohstoffen vorschlägt. Die Lebensmittelindustrie sieht sich diskriminiert, weil die Kosten für Schweizer Rohstoffe in der Regel höher sind. Wenn überhaupt, dann sollten nach Meinung der Lebensmittelindustrie die Konsumentinnen und Konsumenten die Hersteller zu einer freiwilligen Deklaration motivieren. Oder, wie Nestlé in der Vernehmlassung sagte: "Das Produktionsland wird vom Produzenten mit Sicherheit freiwillig angegeben, wenn sich dieser davon einen Mehrabsatz oder Mehrwert erhofft."

4.3 Widerstand regt sich

Der Widerstand gegen das Cassis-de-Dijon-Prinzip begrenzt sich nicht auf leises Murren. Gegen sechs Entscheide des BAG wurde beim Bundesverwaltungsgericht Beschwerde eingereicht. So wehrt sich der Bauernverband unter anderem gegen die Zulassung von wässrigem Schinken und Reibkäse mit Stärkezusatz. Die Stiftung für Konsumentenschutz beanstandet die Deklaration von Karamellen, die so klein ist, dass sie als Information nicht taugt. Und der Schweizer Obstverband ist empört darüber, dass ein dänischer Apfelwein, der zu 85% aus Wasser besteht, immer noch als Apfelwein bezeichnet werden darf, während das Schweizer Pendant bisher zu 70% aus Obstwein bestehen muss.

Die Beschwerde des Obstverbandes wurde erst kürzlich abgewiesen. Das Gericht befand, dass der Obstverband nicht beschwerdeberechtigt sei. Den vom Obstverband vertretenen Schweizer Produzenten von Apfelwein entstünden keine ernsthaften Nachteile, sie könnten ja weiterhin Apfelwein herstellen, niemand hindere sie daran. Konkurrenzdruck allein reiche nicht aus, um eine Beschwerde gegen ein Produkt einzureichen. Die anderen Einsprachen sind noch hängig.

5. Mit Cassis-de-Dijon in die Zukunft

Die Bekämpfung der hohen Preise in der Schweiz hatte im Rahmen der Wachstumspolitik des Bundesrates von 2008 bis 2011 hohe Priorität. Das scheint auch weiterhin der Fall zu sein. Genau wie die EU will auch der Schweizer Bundesrat die technischen Handelshemmnisse langfristig durch Harmonisierung abbauen. Das Cassis-de-Dijon-Prinzip ist eher als Zwischenlösung auf diesem Weg anzusehen. Parallelimporte patentgeschützter Güter lohnen sich bei kleinen Preisunterschieden z.B. nur, wenn das Produkt auch ohne Einschränkung importiert werden kann; das Cassis-de-Dijon- Prinzip erleichtert das.

Und das geplante Freihandelsabkommen mit der EU wird seine volle Wirkung nur entfalten, wenn der Handel nicht durch technische Handelshemmnisse behindert wird. Die Crux ist jedoch, dass Schweizer Agrarprodukte bei dem geplanten Freihandelsabkommen mit der EU nur dann eine Chance haben, wenn sie sich qualitativ von EU-Produkten abheben. Das heisst, sie müssen nach anderen, als den EU-Vorschriften produziert werden. Ein Konflikt des Cassis-de-Dijon-Prinzips mit der Swissnessvorlage und Qualitätsstrategie ist unvermeidbar.

5.1 Freihandelsabkommen

Bei einem Freihandel mit der EU würden zwar die Zölle fallen, die technischen Handelshemmnisse jedoch bleiben. Der freie Handel könnte also weiterhin behindert sein. Die EU wäre genauso wenig wie heute gezwungen, Produkte, die nach Schweizer Normen hergestellt sind, zuzulassen.

Nicht zuletzt aus diesem Grund soll das Freihandelsabkommen mit der EU auch das gesamte Lebensmittelrecht umfassen. Das heisst sämtliche Vorschriften zur Kennzeichnung, Hygiene und Kontrolle von Lebensmitteln, Zusatz-, Fremd- und Inhaltsstoffen bis hin zu gentechnisch veränderten Organismen wären davon betroffen. Vorschriften über Tierschutz, Tiergesundheit, Vermarktungsnormen, Pflanzenschutzmittel, Dünger, Futtermittel und Sortenschutz sind ebenfalls Gegenstand der Verhandlungen. Und weil die gegenseitige Anerkennung von Vorschriften aufwändig ist, und die EU nur wenig Interesse daran hat, die Schweizer zu bevorzugen, liegt es auf der Hand, dass die Schweiz versuchen wird, möglichst viele EU-Standards zu übernehmen. Je flacher die Hochpreisinsel Schweiz wird, desto weniger hebt sich die Schweiz von anderen Ländern ab. Die Schweiz verblasst. (Text: LID)

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