Food aktuell
Varia
12.4.2011
Cassis-de-Dijon: Recht auf schlechtere Qualität

Das Cassis-de-Dijon-Prinzip ist noch kein Jahr in Kraft. Bereits wird klar, dass damit Schweizer Vorschriften unterwandert werden. Statt billiger sind die neuen Produkte nur weniger wert. Bericht in zwei Teilen: Teil 1.

Die einseitige Einführung des Cassis-de- Dijon-Prinzips hat den Vorteil, dass es relativ rasch umgesetzt werden konnte. Langwierige Verhandlungen mit der EU blieben der Schweiz ebenso erspart wie Zugeständnisse in anderen Bereichen, z.B. der Unternehmenssteuer. Doch die einseitige Einführung birgt das Risiko der Inländerdiskriminierung.

2.1 Die Schweiz unterwandert sich selbst

Zur Inländerdiskriminierung kommt es, wenn ein Schweizer Hersteller bei der Produktion eines Produkts strengere Vorschriften erfüllen muss, als ein Importeur, obwohl beide ihre Produkte in der Schweiz vermarkten. Damit inländische Unternehmen nicht benachteiligt werden, dürfen sie deshalb Produkte, die gemäss Cassis-de-Dijon-Prinzip in der Schweiz zugelassen sind, nach den technischen Vorschriften des jeweiligen Importlandes produzieren. Im Klartext heisst das: Die Schweiz kann die Bestimmungen der EU übernehmen. Das ist die eigentliche Crux des Cassis-de-Dijon-Prinzips. Denn im Grunde genommen werden damit die schweizerischen technischen Vorschriften ausgehebelt. Langfristig könnte sich die Schweiz sogar dem Niveau desjenigen EU-Landes anpassen, welches den tiefsten gesetzlichen Standard hat.

Verhindern lässt sich das nicht. Ob die Konsumentinnen und Konsumenten das goutieren ist eine andere Frage. Vorausgesetzt, sie wissen überhaupt, nach welchen Vorschriften ein Produkt hergestellt wurde. Im Entwurf war noch vorgesehen, die Herstellungsmethode zu deklarieren. So sollte z.B. "nach deutschen Anforderungen hergestellt” draufstehen, wenn ein Schweizer Produkt nicht nach schweizerischen, sondern nach deutschen Vorschriften hergestellt wurde. Dagegen wehrten sich aber die Vertreter der Wirtschaft (economiesuisse, Coop, Denner, Migros, fial, VMI etc.). Die Bestimmung wurde dann fallen gelassen. Die Wirtschaftsvertreter schlugen alternative Varianten vor: Man sollte ausloben dürfen, wenn ein in der Schweiz von einem Schweizer Unternehmen hergestelltes Schweizer Produkt tatsächlich nach Schweizerischen Vorschriften produziert worden ist ...

2.1.1 Die EU öffnet das Tor zur Welt

Das Cassis-de-Dijon-Prinzip gilt nicht nur für Produkte, die in der EU oder dem EWR hergestellt wurden, sondern auch für alle Produkte, die dort rechtmässig in Verkehr gebracht wurden. So können Produktanbieter aus Drittländern ihre Produkte zuerst rechtmässig in der EU in Verkehr bringen und anschliessend in die Schweiz umleiten. Wenn sie dabei das Land mit den tiefsten Eintrittshürden aussuchen ist das genauso legitim, wie wenn die Schweizer Hersteller die Vorschriften von solchen Drittländern übernehmen.

2.2 Deklaration als Information

Damit die Konsumentinnen und Konsumenten entscheiden können, ob sie dieses oder jenes Produkt kaufen wollen, sind sie auf Informationen angewiesen. Diese Produktinformationen müssen deshalb in mindestens einer schweizerischen Amtssprache abgefasst sein, also Deutsch, Französisch, Italienisch oder Rätoromanisch. Ausnahmen sind nur für bestimmte Produkte möglich: Wenn trotzdem genügend und unmissverständlich über das Produkt informiert wird. Exotische Spezialitäten und ausländische Delikatessen dürfen z.B. in der Schweiz verkauft werden, ohne dass sie in einer Amtssprache angeschrieben sein müssen. Den Gebrauch von Wein muss man z.B. auch nicht erklären, weshalb er auch eine spanische Etikette haben darf. Symbole dürfen verwendet werden, wenn damit eine genügende Information sichergestellt ist.

Die Vorschrift der Deklaration in einer Landessprache widerspricht eigentlich dem Geist des freien Warenflusses. Denn Produkte aus Deutschland, Österreich, Italien oder Frankreich erfüllen sie problemlos, während Produkte aus Portugal oder Polen eine zusätzliche Produktinformation in Schweizer Landessprache benötigen. Aber genau das ist wiederum ein technisches Handelshemmnis.

2.2.1 Nicht überall steht drauf, was drin ist

Die Schweiz und die EU produzieren zwar ähnlich. Sie haben jedoch unterschiedliche Deklarationsvorschriften. Hier ein paar Beispiele:
• Bei Lebensmitteln ist die Angabe des Produktionslandes nach schweizerischem Recht immer erforderlich, in der EU nur dann, wenn Täuschungsgefahr besteht.
• Bei Käse ist der Fettgehalt nach schweizerischem Recht in Prozenten oder verbal anzugeben, in der EU gibt es hierzu keine Regelung.
• Bei Spraydosen, Farblacken und Reinigern ist nach schweizerischem Recht eine zweisprachige Deklaration erforderlich, in der EU gibt es keine Regelung.
• Bezüglich toxischer Werte in Bedarfsgegenständen wie z.B. Tinte sieht das schweizerische Recht eine strengere Regelung vor als die EU.
• Eine Zahnpasta darf den EU-Konsumenten als "zahnmedizinisch vorbeugend" angepriesen werden, während in der Schweiz nur der Aufdruck "kariesverhütende Eigenschaften" erlaubt ist.
• der Import von deutscher "Sahne” war bislang nur erlaubt, wenn auf der Packung auch "Rahm” stand.

2.2.2 Weitgefasste Produktionsländer

Gerade bei Lebensmitteln stellt die Herkunft für viele Konsumentinnen und Konsumenten ein wichtiges Kaufkriterium dar. In der Schweiz muss bei Lebensmitteln stets das Produktionsland angegeben werden, in der EU nur, wenn Täuschungsgefahr besteht. Und während in der Schweiz das Produktionsland genau definiert ist, ist die EU in dieser Hinsicht flexibler. Bei Bündnerfleisch aus brasilianischem Rindsbinden heisst es in der Schweiz "hergestellt in der Schweiz mit Fleisch aus Brasilien", während "hergestellt in Österreich" bei einem Schinken auch dann noch zulässig ist, wenn der Schinken von Schweinen stammt, die in Dänemark gemästet, in Deutschland geschlachtet und in Österreich nur noch geschnitten wurden.

Wenn italienischen Konservendosen chinesische Tomaten beigemischt werden, steht kaum je "Herkunft China" drauf. Die Konserven gelten als italienisch und werden aus dem Produktionsland Italien importiert, auch wenn die Herkunftskennzeichnung gemäss Schweizer Recht den chinesischen Anteil ausweisen müsste.

2.3 Das Prinzip und seine Ausnahmen

Meistens denkt man beim Cassis-de-Dijon-Prinzip an Lebensmittel. Dabei fallen alle Arten von Konsumgütern darunter, also auch Kosmetika, Textilien, Möbel, Velos und Lebensmittel. Allerdings kann nicht alles vorbehaltlos importiert werden. So sind zum Beispiel nach wie vor Kontrollen zur Energieeffizienz bestimmter Elektrogeräte vorgesehen (Kühl- und Gefriergeräte, Tumbler, kombinierte Wasch-Trocken-Automaten, Backofen, Set-Top-Boxen, elektrische Normmotoren).

Ausnahmen vom Cassis-de-Dijon-Prinzip sind nur zum Schutz überwiegender öffentlicher Interessen möglich und sie müssen verhältnismässig sein. Schützenswerte öffentliche Interessen sind z.B. die öffentliche Ordnung und Sicherheit; das Leben und die Gesundheit von Menschen, Tieren und Pflanzen; der Schutz der natürlichen Umwelt; die Sicherheit am Arbeitsplatz; der Schutz der Konsumenten und der Lauterkeit des Handelsverkehrs sowie des nationalen Kulturgutes und des Eigentums. Das Cassis-de-Dijon-Prinzip gilt in der Schweiz nicht für:

Produkte, die einer Zulassungspflicht unterliegen, und anmeldepflichtige Stoffe nach der Chemikaliengesetzgebung (z.B. Arzneimittel, Pflanzenschutzmittel), Produkte, die einer vorgängigen Einfuhrbewilligung bedürfen (z.B. Waffen), Produkte, die einem Einfuhrverbot unterliegen (z.B. befristete Einfuhrverbote für Geflügelprodukte während der Vogelgrippezeit).

Auf www.cassis.admin.ch ist eine (unverbindliche) Negativliste mit den Ausnahmen veröffentlicht. Ausnahmen gibt es auch bei der Produktkennzeichnung und den Produktvorschriften. z.B:
Angabe des Alkoholgehalts bei Süssgetränken
kombinierte Warnhinweise auf Tabakprodukte
Blei-Verbot in Farben und Lacken
Phosphat-Verbot in Waschmitteln
lufthygienische Anforderungen für Öl-, Gas-, Holz- und Kohlefeuerungen
Angabe des Herkunftslands für Lebensmittel und Rohstoffe
Batteriehaltung von Hühnern Kaninchenfleisch, das mit in der Schweiz verbotenen Tierhaltungssystemen produziert wurde

2.3.1 Sonderfall Lebensmittel

Lebensmittel, welche die Schweizer Produktvorschriften nicht erfüllen, aber in der EU oder einem EU-Mitgliedstaat rechtmässig in Verkehr sind, brauchen für den Erstimport eine Bewilligung des Bundesamtes für Gesundheit (BAG). Bewilligt wird, was die Gesundheit der Konsumenten nicht gefährdet, den Täuschungsschutz gewährleistet und die Anforderungen an die Produktinformation erfüllt. Diese Bewilligung wird als Allgemeinverfügung erteilt und gilt dann für alle gleichartigen Lebensmittel.

In der Regel erteilt das BAG die Bewilligung innerhalb einer Frist von zwei Monaten. Die Listen der eingegangenen und abgewiesenen Gesuche, sowie der erteilten Allgemeinverfügungen sind ebenfalls unter www.cassis.admin.ch veröffentlicht. Bewilligt wurden bis zum 15. März 2011 insgesamt 23 Gesuche.

Ein Teil der bewilligten Lebensmittel weicht lediglich in den Kennzeichnungsvorschriften ab: So wurden z.B. Teigwaren aus Frankreich bewilligt auf denen steht "oeufs frais", in der Schweiz wäre der Hinweis auf frische Eier nicht erlaubt. Und Käse, der in der Schweiz als "fettfrei" bezeichnet wird, darf nun auch mit "0% Fett" deklariert werden. Ob ein Branntwein gesüsst wurde oder nicht, muss seit den Bewilligungen des BAG nicht mehr draufstehen – bis anhin war das noch Pflicht. Auch die Zutatenliste bei "aromatisierten weinhaltigen Cocktails" darf neuerdings fehlen.

Manche Produkte werden anders definiert: So wurde deutscher Kaviar zugelassen, der nicht, wie in der Schweiz ausschliesslich vom Stör stammt, sondern auch von einer anderen Fischart stammen kann. Zahlreiche bewilligte Produkten zeichnen sich durch eine mindere Qualität aus: Darunter Schmelzkäse mit mind. 50% Käsetrockenmasse (Schweiz: mind. 75% Käsetrockenmasse), Kaffeerahm mit 10% Milchfett (Schweiz: 15%), Vollrahm mit 30% Fett (Schweiz: 35%), Reibkäse mit bis zu 3% Stärke (Schweiz: 100% Käse), wässriger Schinken (Schweiz: tieferer Grenzwert), Apfelwein mit 15% Obstweinanteil (Schweiz: 70%).

Abgelehnt wurden 18 Gesuche, darunter Schweine-Schnitzel aus Deutschland, auf denen das Produktionsland mit "DE" statt mit "Deutschland" angegeben wurde. Auch zahlreiche Nahrungsergänzungsmittel erhielten die Bewilligung nicht; mehrere fielen aus Schweizer Sicht unter das Arzneimittelrecht.

Hängig waren Anfang März insgesamt 26 Gesuche. Darunter mehrerer Nahrungsergänzungsmittel, Tafelgetränke mit Fruchtsaft und Energy Drinks.

Zurückgezogen wurden 14 Gesuche. Darunter Käse aus Deutschland, "Fromage blanc fondu" aus Frankreich und Milchpulver aus Italien.

2.3.2 Individuelle Allgemeinbewilligungen

Die Bewilligung des BAG gilt für alle gleichartigen Lebensmittel. Gleichartig heisst z.B. dass die Bewilligung für einen Himbeersirup, der nur 10% Fruchtanteil enthält auch für einen Brombeersirup mit 10% Fruchtanteil gilt. "Horizontale” Allgemeinverfügungen gibt es jedoch nicht. Dazu ein Beispiel: Auch im Ausland wird - wie in der Schweiz - eine "deutlich lesbare” Schrift bei der Produktinformation verlangt. In Deutschland versteht man darunter eine Schrift von "mind. 1 mm in gutem Kontrast”, in der Schweiz ist es dagegen die Schrift "Arial 7 Punkt, schwarz auf weissem Grund". Ein Importeur wollte Waffeldauergebäck importieren, welches nach den "deutschen Leitsätzen für Feine Backwaren” hergestellt wurde.

Die Beschriftung entsprach den deutschen Vorschriften, also wurde der Import bewilligt, obwohl das Gebäck nicht mit Arial 7 Punkt angeschrieben war. Die Bewilligung gilt nun für sämtliches "Waffeldauergebäck", das nach diesen deutschen Leitsätzen hergestellt wird. Sie gilt aber nicht für Kekse, Lebkuchen oder Biskuits, welche ebenfalls nach den deutschen Leitsätzen hergestellt werden. Will ein Importeur - oder ein inländischer Hersteller - solche Gebäcke anders als mit der Schrift "Arial 7 schwarz auf weiss" beschriften, dann muss er ein neues Gesuch einreichen.

2.4 Vertrauen und Kontrolle

Während Lebensmittel bewilligungspflichtig sind, dürfen andere Produkte wie z.B. Möbel, Kleider oder Heimwerkerartikel in der Schweiz jederzeit verkauft werden, wenn sie nach den Vorschriften der EU- bzw. eines EWR-Landes hergestellt und dort rechtmässig in Verkehr gebracht wurden. Dafür braucht es weder eine Bewilligung noch spezielle Dokumente. Im Zweifelsfall kann die Marktüberwachung jedoch eine Kontrolle anordnen. Dann müssen die Importeure oder Hersteller den Nachweis erbringen, dass das entsprechende Produkt den Vorschriften der EU genügt. (Text: LID)

Weiterlesen: Teil 2: Cassis-de-Dijon: Wer verliert, wer profitiert?

Copyright http://www.foodaktuell.ch