Food aktuell
Varia
28.4.2007
Nischen-Strategien lohnen sich heute

Tipps und Trends von Marketing-Experten des Gottlieb Duttweiler Instituts.



Was macht gesättigte und Nischenkunden neugierig? Zum Beispiel limitierte Neulancierungen (Bild: Limited Edition-Glace von Mövenpick), ungekannte Erlebnisse, Weine für Frauen, gestylte Bioprodukte.


Jahrzehntelang haben Marketingfachleute die «Block-Buster-Strategie» gepredigt: Ein Fünftel des Sortiments muss vier Fünftel des Umsatzes erzielen. Damit ist Schluss, das Wachstum verlagert sich zusehends in die Nischen. Was es jetzt zum Überleben braucht, erklärten renommierte Experten Ende März an der «3rd European Consumer Trend Conference» des Gottlieb Duttweiler Institut (GDI) in Rüschlikon bei Zürich.

Der Massenmarkt wird zwar nicht sterben. Trotzdem besteht zur Beruhigung kein Grund. Denn erstens werden die zukünftigen Massenmärkte kleiner sein, nicht einmal die grössten Player sind vor Aufsplittung gefeit. Und zweitens liegen die neuen Massenmärkte nicht in Europa, sondern in den «BRIC»-Ländern Brasilien, Russland, Indien und China, welche 2050 wohl die führenden Industrienationen ausmachen werden.

In Europa hingegen ist die Zeit der Industriekultur, als Masse die zentrale Idee darstellte, vorbei. Der vergleichsweise kleine Markt kann sich nur noch mit neuen Ideen abheben. Oder, in Anlehnung an den österreichischen Ökonomen Joseph A. Schumpeter (1883-1950): Wir befinden uns in einer Phase, in der die Produktionsmittel durch Innovationen «schöpferisch zerstört» werden und neue Vielfalt entsteht. Segmentierung ist ein Schlüsselfaktor.

Für Europa bedeutet das: Ab in die Nische! In die «Nouveau Niche», um genau zu sein – und so lautete auch der Titel der dritten «European Consumer Trend Conference». GDI-CEO David Bosshart: «Die Vielfalt nimmt zu, und der Durchschnittskunde ist tot. Was wir heute brauchen, ist ein Wettbewerb der Differenzierung.» Während zuvor die «Aldisierung» dominierte, gilt heute und in Zukunft: immer mehr von immer weniger verkaufen. Genau das ist es übrigens auch, was «Wired»-Chefredaktor Chris Anderson in seinem gleichnamigen Bestseller als «The Long Tail» beschrieb.

Me-Conomy

«Nouveau Niche» also. Kreiert hat den Begriff der holländische Trend-Spotter Reinier Evers, Gründer von trendwatching.com. Sein Mega-Trend heisst Individualismus, und die daraus resultierende «Me-Conomy» lässt viele, viele individuelle Bedürfnisse entstehen – lauter Nischen. Denn wenngleich günstige Massenware nicht verschwindet, wird der Kunde doch immer erfahrener und sein Geschmack immer vielfältiger. Preisvergleiche, Bewertungen und Empfehlungen bestimmen seinen Kaufentscheid mehr als alles andere. Netter Nebeneffekt: Unter dem Druck der Online-Empfehlungssysteme steigt die Qualität von Massenware.

Waren einst Status, Masse und die Nachbarn die Messlatten, sind sie jetzt der Konsumenten Alptraum. Um solche reife Käufer zu betören, braucht es Erfindungsgeist. Reinier Evers rät, Innovation und Kreativität einzusetzen, um herauszufinden, was die gesättigten Kunden neugierig macht und wie sie sich überraschen lassen: Pop-up-Stores, limitierte Neulancierungen, ungekannte Erlebnisse – zum Beispiel temporäre Mini-Shops in Shanghai, Design-Möbel für Babies, Weine für Frauen, gestylte Öko-Produkte…

«Nischenkunden sind keine Herdentiere, sondern Individualisten», sagt David Bosshart. «Oberstes Gebot ist, sich mit neuen Kommunikationsformen auseinanderzusetzen, die individuelle Kommunikation ermöglichen.»

Zwei unterschiedliche Konsumenten-Typen

In der Praxis hat Trendscout Reinier Evers zwei wichtige neue Konsumententypen ausgemacht: den Trysumer und den Twinsumer. Der Trysumer ist ein erfahrener Verbraucher, der ein Produkt dank neuer Möglichkeiten erst kostenlos testet und nur bei Gefallen kauft, und der auch mal eine Designer-Handtasche mietet. Der Twinsumer wiederum will immer nur das Beste. Dabei sucht er geistesverwandte Konsumenten, auf deren Urteil er sich verlassen kann.

Für die Anbieter identifiziert Evers nun drei Strategien: Erstens die «Curated Consumption», bei der Verkäufer versuchen, kompetent auf Empfehlungs-Sites erwähnt zu werden. Zweitens «Customer-made»: Waren und Dienstleistungen des täglichen Gebrauchs werden in enger Zusammenarbeit mit Verbrauchern zu Unikaten veredelt. Und drittens «Snobmodities» – Alltagsprodukte wie Salz oder Honig, die zu schicken Luxus-Artikeln avancieren.

Motor «Web 2.0»

Technologischer Treiber der Nischen-Bildung ist das Internet – genauer das «Web 2.0» mit seinen Bewertungs- und Empfehlungs-Systemen, welche die Macht an die Konsumenten übertragen. Das Geschäft entwickelt sich von B2B (business to business) hin zu C2C (consumer to consumer). Ausschlaggebend werden Menschen sein, die sehr gut kommunizieren und die Reputation der Produkte weiter tragen.

Wichtiger als wenige starke Beziehungen wird die Vielfalt vieler schwacher Beziehungen. So kreiert das Netz soziales Kapital. Insgesamt, sagt David Bosshart, hilft die Technologie, zu lokalisieren, zu regionalisieren und den persönlichen Aspekt ins Zentrum zu stellen. Das Netz bringt die Dimensionen auf ein vernünftiges Mass zurück, humanisiert die Entwicklung und gibt dem Einzelnen Mut zur Veränderung.

Der Trend zur Nische ist nicht mehr nur Zukunftsmusik. Die Angebotsvielfalt im Web ist schon heute unvorstellbar gross, gegen vierzig Prozent der Umsätze werden online im Long Tail erwirtschaftet. Der Grund: Digitale Händler können mit Grenzkosten, die gegen Null tendieren, ein unbegrenztes Sortiment aufbauen. Demgegenüber sind die Voraussetzungen der Offline-Händler ungleich schlechter: Hohe Distributions- und Lagerkosten, eingeschränkter Regalplatz und Personalkosten führen zu einer Fokussierung auf wenige umsatzträchtige Produkte.

Was tun? Eine Steigerung der Margen lässt sich etwa durch höhere Preise erzielen, da Kunden oft bereits sind, für Special-Interest-Produkte mehr zu bezahlen. Aber auch mit verbesserten Empfehlungen und Suchmaschinen kann man die Marge erhöhen. Es gibt Alternativen: Zum Beispiel bei Otto, wie Björn Schäfers, Geschäftsleiter der Otto-Tochter Schopping24 erzählt. Deutschlands grösster Versandhändler investiert in bessere Empfehlungsdienste (Konsumenten-Rezensionen) und Suchmaschinen, die den Kunden schneller und einfacher zum Produkt führen sollen.

Um Nutzwert und Attraktivität zu verbessern, wurde zudem mit Rundum-Ansichten und virtueller Anprobe an Avataren die Präsentation der Angebote optimiert. Die Nische wird so zum Teil der Internet-Strategie. Heute ermöglicht das Internet Globalisierung und Regionalisierung gleichzeitig. Damit ist die «TINA»-Haltung («there is no alternative») definitiv out – es gibt Alternativen!

Doch das ist erst der Anfang. Zunehmend werden Teile der Wertschöpfungskette gleich an die Konsumenten ausgelagert – «Crowdsourcing» nennt Peter Wippermann, Leiter des Trendbüro Hamburg, eine solche Automatisierung sozialer Beziehung mittels Internet. Schon heute wickeln Kunden ganze Bestellvorgänge an ihrem PC ab oder personalisieren Produkte nach ihren eigenen Wünschen. Mit anderen Worten: Konsumenten liefern Ideen, werden zu Entwicklern, gar Designern.

Damit geht die Macht von den Produzenten zu den Konsumenten über: Sie sagen, was sie wollen und interessant finden, sie machen die Spielregeln. Solcherart massgefertigte Produkte sind automatisch Nischenprodukte, was zählt sind Individualität statt Masse, Dissens statt Konsens, Dialog statt Monolog.

Konsequenz: Statt dem Produkt wird immer mehr die Kundenorientierung zum entscheidenden Faktor, Marketing und Vertrieb fusionieren. Die Konsumenten werden zu Kooperationspartnern. Wer nicht angeschlossen ist, wird ausgeschlossen – Konsumenten wie Unternehmen. Für eine erfolgreiche Netzwerk-Ökonomie sind nicht mehr die Produktionsmittel entscheidend, sondern die Vernetzung.

Mediale Nähe ist die Nachbarschaft von morgen. Das belegt deutlich Ebay, wo Käufer zu Verkäufern werden und gebrauchten Produkten einen zweiten Frühling ermöglichen – die totale E-mancipation der Konsumenten. Die Fertigkeiten des Self-Marketing und Self-Publishing erwerben sie bereits als Kinder. So entstehen selbstbestimmte Konsumenten, die ihre Individualität designen. Dass «Persönlichkeit» zu einem eigentlichen Arbeitsfeld wird, zeigt schon heute «Second Life», die von fünf Millionen Usern bestimmte virtuelle Parallel-Welt.

Text: 1. Teil der Medienmitteilung gdi.ch
Bild: foodaktuell


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