Food aktuell
Varia
1.5.2008
Buchtipp: «Verdrehte und hochgespielte» Risiken



Verdreht und hochgespielt


Wie Umwelt- und Gesundheitsgefahren instrumentalisiert werden:
Vogelgrippe
Gentechnik
Schadstoffe im Trinkwasser
Acrylamid
Cumarin
Feinstaub
Waldsterben
Klimaerwärmung

Von Alex Reichmuth


Mit der unsachlichen Darstellung von Gefahren für Mensch und Umwelt marschieren wir in Richtung einer «Behauptungs-Gesellschaft», stellt Alex Reichmuth fest. In dieser gelten nicht mehr objektive Fakten als wahr, sondern das, was Interessenvertreter als wahr deklarieren. Jeder und jede kann Behauptungen aufstellen und versuchen, diesen mithilfe des medialen und politischen Apparates zum Durchbruch zu verhelfen. Es droht eine Art voraufklärerischer Zustand, in dem nicht gemäss objektiver Nützlichkeit gehandelt wird, sondern gemäss Mythen und Verklärungen.

Der Autor plädiert deshalb für mehr Sachlichkeit und weniger Ideologie.In den Schweizer Medien folgen Debatte um Debatte über Gefahren, die unser Leben scheinbar bedrohen. Geht man aber der angeblichen Bedrohung auf den Grund, erscheinen viele Umwelt- und Gesundheitsskandale in einem andern Licht: Die veröffentlichten Zahlen erweisen sich als fragwürdig, die beängstigenden Risiken als übertrieben, die Horrorszenarien als haltlos. Trotzdem tauchen immer wieder neue Schreckensmeldungen auf.

Zu viele Akteure haben ein Interesse an ihnen: Umweltaktivisten, die um Aufmerksamkeit kämpfen; Politiker, die ideologisch argumentieren; Medien, die nach jeder «guten Geschichte» greifen. Alex Reichmuth zeigt, wie Umwelt- und Gesundheitsgefahren hochgespielt werden und welche gesellschaftlichen Mechanismen dabei wirken. Katja Gentinetta referiert in einem Vorwort über Katastrophenszenarien im öffentlichen Diskurs und Kurt Imhof thematisiert in einem Nachwort den Sinn von Katastrophen und die jahrhundertelange Auseinandersetzung mit ihnen.

NZZ Libro, Buchverlag Neue Zürcher Zeitung
Postfach, CH-8021 Zürich
Telefon: 044 258 15 05
Email: nzz.libro@nzz.ch
Internet: www.nzz-libro.ch/de/aktuell.php


foodaktuell.ch präsentiert eine Leseprobe:

Wie hei andern «Lebensmittelskandalen» ergab sich auch beim Thema Acrylamid eine verhängnisvolle Dynamik: Forscher weisen einen Stoff nach, der dem Menschen gefährlich werden kann. Die Medien nehmen die Meldung in grossem Stil auf, machen aus der potenziellen Gefahr kurzum eine tatsächliche und suggerieren so den Eindruck eines riesigen Problems. Unter dem Druck der öffentlichen Empörung sind Behörden und Industrie wiederum zu Aktionismus gezwungen: Sie müssen zeigen, dass sie die «Bedenken der Bevölkerung ernst nehmen», indem sie Grenzwerte (oder «Signalwerte») erlassen, Fertigungsprozesse anpassen, Kontrollen durchführen und der Öffentlichkeit die Fortschritte rapportieren.

Wer angesichts fehlender wissenschaftlicher Grundlagen die Dringlichkeit und Relevanz solcher Massnahmen infrage stellt, wird als «Verharmloser» abgestempelt und öffentlich angeprangert. Solange die Unhedenklichkeit von Acrylamid wissenschaftlich nicht bewiesen werden kann, bleibt auch nach entwarnenden Forschungsresultaten noch genügend Spielraum für Spekulationen — was weitere Vorwürfe nach sich zieht. Das Karussell kommt irgendwann dann doch zum Stillstand - aber nicht etwa, weil die offenen Fragen geklärt und die nötigen Massnahmen bestimmt sind, sondern weil das Thema mangels neuer Meldungen sozusagen «einschläft» und nach und nach vergessen geht.

Acrylamid wurde von vielen Medien als Lebensmittelskandal dargestellt. Der Komunikationswissenschaftler Hans Mathias Kepplinger ist überzeugt, dass die Grösse eines Medienskandals nicht abhängig sei vorn zugrunde liegenden Missstand, sondern von der Intensität seiner Skandalierung: «Ein grosser Skandal ist ein Missstand, den viele Menschen für einen Skandal halten, und sie halten ihn für einen Skandal, weil alle meinungsbildenden Medien ihn immer wieder als solchen präsentieren.»

Es gebe zwar immer einige Medien, die der Wahrheit - jener Einsicht, die nach Vorlage aller Fakten sichtbar wird - sehr nahe kämen. «Die Wahrheit geht aber während des Skandals in einer Welle krass übertriebener oder gänzlich falscher Darstellungen unter. Die Oberhand gewinnt sie erst, wenn der Skandal zu Ende und die Flut der anpragenden Berichte verebbt ist.» Zu diesem Zeitpunkt interessiere sich aber kaum noch jemand dafür, weil sich die Medien und mit ihnen das Publikum längst andern Themen zugewandt hätten.

Welchen Druck der öffentliche Aufruhr um Acrylamid erzeugen kann, zeigt der Rückzug der Milupa-Kinderbiskuits im September 2005. Das Kantonale Labor Zürich hatte zuvor im Produkt «Milupino» eine besonders hohe Acrylamidbelastung gemessen und wies die Herstellerfirma Milupa an, die Kinderbiskuits vom Markt zu nehmen.

«Einen so hohen Wert hatten wir noch nie», kommentierte das Zürcher Kantonslabor: Milupa tat wie geheissen und zog das Produkt zurück, obwohl die Firmenleitung davon überzeugt war, dass nie eine gesundheitliche Gefahr für Kinder bestanden hatte. Dass der Rückzug im Zusammenhang mit Acrylamid stand, wurde anfänglich nicht kommuniziert, kam dann aber durch Recherchen von Schweizer Radio DRS an die Öffentlichkeit. Am Ende stand Milupa nicht nur als potenzielle Kindervergifterin da, sondern auch als Informationsvertuscherin.

Fazit

Der Aufruhr um Acrylamid ist ein typisches Beispiel, wie in der modernen Wissenschafts- und Mediengeselischaft selbst untrennbar mit dem Leben verbundene Risiken problematisiert werden: In einer grossen Zahl von Lebensmitteln wird eine Substanz nachgewiesen, die sich möglicherweise negativ auf die Gesundheit auswirkt. Das gesundheitsgefährdende Potenzial lässt sich allerdings nur schwer abschätzen - dazu muss davon ausgegangen werden, dass die Substanz schon seit Urzeiten in einer grossen Zahl von Nahrungsmitteln vorkommt.

Konsumentenschützer und Medien machen die Entdeckung aber zu einem Lebensmittelskandal und fordern in schrillen Tönen Massnahmen zur Elimination des Stoffes. Sie berichten akribisch über jede neue wissenschaftliche Erkenntnis und geben der Bevölkerung ganze Listen von Tipps und Ratschlägen, wie sie sich schützen soll. Dabei geht vergessen, dass in Nahrungsmitteln eine grosse Zahl von Stoffen und Substanzen auftreten, die sich potenziell negativ auf die Gesundheit auswirken: Sie alle zu vermeiden, ist unmöglich. Weisen Behörden- und Industrievertreter aber darauf hin, dass eine ausgewogene Ernährung trotz neuer Erkenntnisse über problematische Substanzen noch immer die beste Gesundheitsvorsorge sei, werden sie öffentlich als Zyniker und Verharmloser dargestellt.

Da Acrylamid eine problematische Substanz ist, ist es sicherlich sinnvoll, mittelfristig technische Verfahren zu entwickeln, dank denen die Entstehung so gering als möglich gehalten werden kann. Panikartige Sofortmassnahmen und hektische Betriebsamkeit dienen der Lebensmittelsicherheit jedoch nicht.

«Lebensmittelskandale» am Laufmeter: Cumarin

Eine weitere seit Urzeiten in Nahrungsmitteln vorkommende problematische Substanz führte vor Weihnachten 2006 zum «Krieg der Zimtsterne»: Cumarin. Der Aromastoff kommt vor allem in Zirpt vor, kann bei empfindlichen Menschen zu Leberentzündungen führen und steht (wie so viele andere Stoffe) im Verdacht, Krebs zu erzeugen. Das Bundesamt für Gesundheit schrieb zu dieser Substanz: «Cumarin in Zimt ist kein neues, sondern ein neu erkanntes Risiko.»

Messungen hatten gezeigt, dass in zimthaltigen Lebensmitteln die Cumarin-Grenzwerte zum Teil deutlich überschritten werden. Die Ursache liegt darin, dass gewisse Zimtsorten (vor allem der so genannte «Cassia»-Zimt, der häufig für industriell gefertigte Produkte verwendet wird) aufgrund natürlicher Eigenschaften erhöhte Werte aufweisen. Deutsche und Schweizer Behörden gaben in der Folge die Empfehlung ab, dass Kinder nicht mehr als drei bis vier Zimtsterne pro Tag essen sollten und Erwachsene nicht mehr als deren 16. Das Bundesamt für Gesundheit wies die Kantonschemiker an, Zimt-Lebensmittel mit einem zu hohem Cumaringehalt vom Markt zu nehmen.

Konsumentenschützer stilisierten die erhöhten Cumarinwerte zu einem Lebensmittelskandal hoch. Die deutsche Konsumentenschutz-Organisation Foodwatch zeichnete das Bild der verantwortungslosen Behörden und der rücksichtslosen Industrie, weil diese ihrer radikalen Forderung nach Rückruf aller belasteten Produkte nicht nachkamen: «Foodwatch hat herausgefunden: Die verantwortlichen Politiker planten zunächst eine Rückrufaktion. Doch dann liessen sie sich von der Industrielobby vom Gegenteil überzeugen. Belastete Lebensmittel dürfen weiter verkauft werden.»

Auch Jacqueline Bachmann von der Schweizer Stiftung für Konsumentenschutz stimmte in das Skandalgeheul ein und prangerte die Lebensmittelindustrie an: «Die Situation zeigt einmal mehr, dass die Produzenten vor nichts zurückschrecken, um billiger zu produzieren». Nach Weihnachten 2006 verschwand das Thema Cumarin ebenso rasch aus den Schlagzeilen, wie es gekommen war. Denn schon stehen die nächsten Skandale aufgrund irgendwelcher problematischer Substanzen vor der Tür.

Weiterlesen: BAG und Kassensturz warnen vor Zimt

Copyright http://www.foodaktuell.ch