Food aktuell
Varia
6.3.2012
Stevia: Bewilligt aber sensorische Knacknuss

Viele Hersteller scheuen den Aufwand von neuen Rezepturen, die bei der Verwendung von Stevia-Extrakt notwendig werden.

Lebensmittel, gesüsst mit Extrakten aus der südamerikanischen Süsspflanze Stevia rebaudiana, dürften künftig vermehrt in den Regalen der Grossverteiler stehen. Bisher benötigten Lebensmittelhersteller eine Bewilligung des Bundesamts für Gesundheit (BAG), wenn sie mit Stevia-Extrakt gesüsste Produkte verkaufen wollten.

Das ist nun nicht mehr notwendig: Die EU hat den Süssstoff Anfang Dezember 2011 zugelassen; die Schweiz übernimmt die EU-Regelung. Aus diesem Grund ist für Produkte mit Steviol-Glykosiden, die den EU-Vorschriften entsprechen, in der Schweiz keine Bewilligung mehr notwendig.
Bild: mit Stevia gesüsster Eistee der Murtener Firma Storms

"Zugelassen wurde nicht die Pflanze selbst, sondern nur der Extrakt Steviol-Glykoside, der in einem aufwändigen Verfahren aus den Steviablättern gewonnen wird", präzisiert Kurt Steiner, Mitglied des Vereins Pro Stevia Schweiz. Der Extrakt durchläuft verschiedene Raffinierungsprozesse und hat laut Steiner eigentlich nichts mehr mit dem Wunderkraut zu tun.

Die Pflanze selbst darf zwar angebaut und verkauft, mit den Blättern darf jedoch kein Handel betrieben werden. Nicht alle Länder sind so zurückhaltend: In Japan etwa ist Süssstoff aus Stevia seit 30 Jahren salonfähig. Der Anteil der ursprünglich aus Paraguay stammenden Pflanze im Süssmittelmarkt beträgt in dem fernöstlichen Land rund ein Viertel. Und auch in China oder Israel sind Stevia-Extrakte weit verbreitet.

Starker Eigengeschmack

Erstaunlich also, dass in der Schweiz noch kaum Konfitüren, Schokoladen oder Kaugummis mit dem süssen Saft des Wunderkrauts im Handel zu finden sind. Was unter anderem daran liegen mag, dass mit dem Pflänzchen auf der Verpackung nicht geworben werden darf, wodurch die Produkte den Konsumenten kaum auffallen. "Wie das BAG zur Zulassung des Extrakts schreibt, darf das Wort Stevia nur für Produktbeschreibungen wie ‚Steviol-Glykoside, gewonnen aus Steviablättern' verwendet werden", sagt Steiner. Fakt ist jedoch, dass sich die Lebensmittelindustrie in der Schweiz nicht gerade um den flüssigen Süssstoff reisst – aus unterschiedlichen Gründen.


Die belgische Firma Cavalier gewann mit Stevia-Schokolade den Innovationswettbewerb der internationalen Süsswarenmesse ISM in Köln im Februar 2012. Was die Jury vielleicht nicht wusste: Seit 2009 stellt auch die Freiburger Firma Villars Steviaschokolade her.


Einer davon ist der starke Eigengeschmack der Steviol-Glykoside, die zum Teil lakritzartig oder bitter im Abgang sind. Die 95-prozentige Reinheit sei ein Teil des Problems, meint Steiner: "Weil natürliche Stoffe der Pflanze, die den bitteren Geschmack verhindern, bei einem hohen Reinheitsgrad verloren gehen, muss mit allerlei Aromastoffen nachgeholfen werden, um einen konsumentenfreundlichen Geschmack zu erhalten."

Neue Rezepturen müssen also her, denn laut Urs Meier, Mediensprecher von Coop, konnten die mit Stevia-Extrakt gesüssten Produkte die Kundschaft bisher nicht restlos überzeugen. "Die Joghurts wirkten bitter und nicht ausgewogen, weshalb wir davon ausgehen, dass sich Steviol-Glykoside mit der Matrix Milch beziehungsweise Joghurt nicht vertragen", so Meier. Im Sortiment des Grossverteilers finden sich nur gerade drei mit Stevia-Extrakten gesüsste Produkte: Ein Weight-Watchers-Zitronensirup sowie Assugrin Stevia Sweet in Tabletten- und Pulverform. Ein Ausbau der Produktpalette ist vorerst nicht geplant.

Verteuerte Rezeptur

Bei der Migros sieht es ähnlich aus. Hier umfasst das Sortiment die Getreideriegel Farmer Croc, Dolce-Frutta-Bonbons in drei Geschmackssorten sowie Zucristevia in Tablettenform. Das Pausengetränk Léger Choco Drink wurde wieder aus den Regalen verbannt, da der Geschmack bei den Kundinnen und Kunden nicht ankam. "Die Stevia-Süsse weist einen lakritzähnlichen Eigengeschmack auf und die Einsatzmöglichkeiten sind deshalb beschränkt", sagt Monika Weibel, Mediensprecherin des Migros-Genossenschafts-Bunds.

Zudem sei der Einsatz in vielen Produkten auch aus technologischen Gründen nicht möglich. Weibel: "Steviol-Glykoside können zwar die Süsskraft von Zucker ersetzen, nicht aber das Volumen und die Struktur des Zuckers." In trockenen Lebensmitteln können Steviol-Glykoside deshalb nur einen Teil des Zuckers kompensieren.
Bild: Die Bernrain-Tochter Stella plant eine Stevia-Schokolade zu lancieren.

Dies bestätigt Bernhard Christen, Leiter Kommunikation und Pressesprecher bei der Ricola AG. "Bei einem Bonbon besteht der Körper aus Zucker. Dieser muss bei der Verwendung von Steviol-Glykosiden durch ein anderes Lebensmittel ersetzt werden, was die Rezeptur je nach Technologie und Produkt extrem verteuert." Um erste Erfahrungen zu sammeln, wurden die halbharten Ricola Fresh Pearls testweise mit Steviol-Glykosiden gesüsst. "Das Ergebnis war jedoch so wenig überzeugend, dass wir von einer Markteinführung absahen", sagt Christen.

In Frankreich wird trotzdem getestet: Im April kommen dort zuckerfreie Ricola Original Kräuterzucker mit Steviol-Glykoside in die Regale. "Beim Kräuterzucker ist die Ausgangslage anders, da er durch die zahlreichen Kräuter in der Rezeptur bereits einen starken Eigengeschmack aufweist", erklärt Christen. Ansonsten sei es jedoch schwierig, bei einem bestehenden Produkt, dessen Geschmack den Konsumenten vertraut ist, Stevia-Süsse beizufügen.

Während Coop und Migros den künftigen Erfolg von Steviol-Glykosiden im Lebensmittelmarkt als eher niedrig einschätzen, sieht Christen ein grosses Potenzial im natürlichen Süssstoff. Die Stevia-Süsse treffe einen Trend, denn die heutige Gesellschaft sei auf der Suche nach einem kalorienarmen und zahnschonenden Süssungsmittel: "Steviol-Glykoside werden die Lebensmittelbranche revolutionieren."

Steviol-Glykoside: Ein Millionen-Geschäft

Für die global agierende Nahrungsmittelindustrie birgt der neue Absatzmarkt EU paradiesische Aussichten. Da sich ein Extrakt monopolisieren und patentieren lässt, ist das natürliche Süssungsmittel Stevia längst zu einem industriell gefertigten Massenprodukt wie herkömmlicher Haushaltszucker oder konzentrierter Glukosesirup verkommen. Mehrere Unternehmen verdienen mit dem Wunder-Süssstoff bereits Millionen, indem sie aus den Stevia-Pflanzen hochwirksame Süssstoffe extrahieren oder daraus neue Produkte kreieren. Dazu zählt etwa der Agrarkonzern Cargill, wie "Welt Online" schreibt.



Steviapflanze: Steviosid ist bis 15 Mal so süss wie Zucker, hat Null Kalorien und ist der einzige natürliche Intensivsüssstoff. Der Handel mit Stevia-Blättern ist in der Schweiz nach wie vor nicht erlaubt.


Gemeinsam mit dem Getränkekonzern Coca-Cola entwickelte der Agrarriese einen auf Stevia basierenden Süssstoff mit dem Markennamen Truvia. "Daneben hat der Konzern Merisant ebenfalls ein Extrakt entwickelt und mit Pepsi Exklusivrechte abgeschlossen", weiss Kurt Steiner von Pro Stevia Schweiz. Da Stevia-Extrakte in entsprechender Qualität auch von anderen Herstellern erhältlich sind, machen sich die Schweizer Unternehmen keine Sorgen. "Solche Monopolisierungen sind zwar nicht marktwirtschaftlich, helfen aber immerhin der Weiterentwicklung des Stevia-Süssstoffs", sagt Bernhard Christen von der Ricola AG.

Die Extrakte werden heute in verschiedenen Reinheitsgraden angeboten und sind geschmacklich entsprechend unterschiedlich. Laut Kurt Steiner ist die Produktion von Steviol-Glykosiden jedoch alles andere als nachhaltig: "Mit Steviablättern wäre der Süssstoffertrag und der wirtschaftliche Ertrag pro Hektar höher als mit Steviol-Glykosiden." Wer seine Speisen und Getränke deshalb kostengünstig und natürlich süssen möchte, kultiviert eine eigene Pflanze. Steiner: "Die Stevia-Pflanze darf verkauft werden, einige Gärtnereien und teilweise die Grossverteiler bieten sie an."

Surftipp: www.prostevia.ch
(Text: LID / Helen Weiss)

Weiterlesen: Vereinfachtes Stevia-Bewilligungsprozedere

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