Food aktuell
Varia
2.9.2012
Cervelas in der Kassensturz-Kritik



Cervelas wird oft ohne weiteres Erhitzen gegessen und gilt als verzehrsfertig, weshalb die Hygiene besonders wichtig ist.


Cervelas-Untersuchungen des Kantonslabors Bern und die Kassensturzsendung vom 21.8.2012 haben gezeigt, dass «beinahe die Hälfte der Proben zu viele Keime aufwiesen». Schon im 2011 beanstandete das Labor 16 von 30 Proben wegen ungenügender mikrobiologische Qualität. Gemäss Otmar Deflorin, Verbandspräsident der Schweizer Kantonschemiker, ist das grosse Ausmass an Keimen in den Fleischprodukten zwar noch nicht gesundheitsgefährdend. Es sei allerdings ein Hinweis auf mangelnde Hygiene während der Herstellung.

Viele Wurstproduzenten arbeiten immer zu wenig sorgfältig, vermutet Deflorin. Cervelas werden zwar geräuchert und gebrüht, aber offensichtlich hielten viele Hersteller die empfohlene Temperatur nicht ein. Und «die Hersteller arbeiten unhygienisch bei der Lagerung und Verpackung», so Deflorin. Ausserdem sei bei einigen Produkten die deklarierte Haltbarkeit zu lang. Dies berichtete der Kassensturz.

Man musste mit einer solchen Untersuchung dieses Jahr rechnen, da der öffentliche Jahresbericht 2011 des Kantonslabors Bern darauf hingewiesen hatte. Eine ähnliche Kampagne zeigte dasselbe Bild: «Insgesamt 30 Proben von Cervelats, Bratwürsten und Cipollatas wurden in Supermärkten und Metzgereien erhoben und chemisch sowie teilweise auch mikrobiologisch analysiert. 16 wurden beanstandet wegen ungenügender mikrobiologischer Qualität», so der Bericht.

Und weiter (Zitat Beginn): Für die mikrobiologischen Untersuchungen wurden die 20 Proben, im Labor unter 5 °C bis ans Ende der deklarierten Verbrauchsfrist, also zwischen 8 und 27 Tage nach dem Produktionsdatum, gelagert und dann untersucht.

Die Beurteilung der Würste als hitzebehandelte, genussfertige Produkte ergab ein sehr schlechtes Bild. 14 Proben wiesen Toleranzwertüberschreitungen bei den aeroben, mesophilen Keimen (13- mal) und/oder Enterobacteriaceen (11- mal) auf. Mit 170 Millionen aeroben, mesophilen Keimen pro Gramm wurde in einer Cervelat der höchste Wert festgestellt.

Der wahrscheinliche Grund für diese Mängel ist eine ungenügende Erhitzung bei der Produktion (keine Kerntemperaturmessungen in den Würsten) und/oder eine zu optimistische Verbrauchsfrist (Vakuumieren der Würste ergibt keine Konservierung, sondern ist einfach eine saubere Verpackung, die vor Verunreinigung schützt). Die Untersuchungskampagne hat gezeigt, dass bei der Produktion von Brühwürsten die Kerntemperatur unbedingt erreicht und auch gehalten werden muss. Ansonsten werden die Keime nicht abgetötet. Weitere Kontrollen sind im nächsten Jahr geplant (Zitat Ende).

Sturm im Wasserglas?

Diese Kassensturzsendung warf verständlicherweise hohe Wellen oder verursachte – je nach Standpunkt – einen Sturm im Wasserglas. So kommentierte am 24.8.2012 der Tagesanzeiger: «Der Konsument ist grundsätzlich kein Vernunftswesen sondern ein Instinktgeschöpf. Er analysiert nicht, er fühlt. Grenzwertdebatten kümmern ihn nur noch bedingt, sobald es ihn ordentlich schaudert und graust. Und das ist hier wieder einmal der Fall: In einem der 36 Cervelats stellte man Durchfallbakterien fest. Hört der Konsument nun «Cervelat», denkt er: «Fäkalien!»

Sachdienlich ist diese enge Koppelung zweier Wörter nicht. Dafür ist sie als Automatismus im Hirn äusserst hartnäckig und haltbar. Der Fleischkonsum des Einzelnen, der kein ausgebildeter Lebensmittelchemiker ist, basiert auf Vertrauen, auf dem Glauben an Sauberkeit und Seriosität im Fleischgewerbe. Und leider wird dieser Glaube regelmässig erschüttert».

«Alles in bester Ordnung»

Eine andere Position bezog die NZZ am Sonntag (NZZaS) vom 26.8.2012, die dem Thema eine ganze Seite widmete unter dem Titel «Skandalwurst». Da wurde stark relativiert: «Der Cervelat ist gespickt mit Keimen und enthält selten sogar Fäkalbakterien. Das ist keine Tragödie, sondern ganz normal. Die Wurst der Nation ist deswegen weder verdorben noch gefährlich. In unserem Speichel leben zehnmal mehr Bakterien als in der harmlosen Wurst».

Das Fazit des Kommentators: «Mit unserer Nationalwurst ist alles in bester Ordnung. Sie verursacht keinen Durchfall, sie macht nicht krank, und sie schmeckt genauso gut wie eh und je. Das Problem ist, dass wir grundsätzlich missverstanden haben, was ein Cervelat ist. Denn in unserem kollektiven Bewusstsein tritt er fatalerweise als eine Art fleischgewordene Bundesverfassung auf, in der Keime nichts verloren haben. Dass es Bakterien in der Wurst gibt, liegt daran, dass wir in einer Welt voller Bakterien leben».

Und die NZZaS zitierte Helmut Brandl, Mikrobiologe am Institut für Evolutionsbiologie und Umweltwissenschaften der Universität Zürich: «Bakterien gehören einfach zur normalen Raumausstattung». Die Konsequenz davon sei, dass der Wurstcutter auch reichlich Bakterien mit ins Brät einknete. Metzger würden daher die Cervelats am Schluss auf 72 Grad Celsius erhitzen. Wird ihr Kern drei Minuten bei dieser Temperatur gehalten, sind die Würste pasteurisiert aber nicht keimfrei. Selbst wenn es in einer Wurst 140 Millionen Keime pro Gramm gibt, wie bei der im Test als «verdorben» gekennzeichneten Probe, sei das für unsere Gesundheit kein Problem.

Das Argument sticht: Daher fixiert die schweizerische Hygieneverordnung nur einen Toleranzwert für die Keimzahl und keinen Grenzwert. Einen solchen gibt es für Krankheitserreger. Eine Überschreitung des Toleranzwertes jedoch bedeutet keine Gesundheitsgefährdung.

Sogar bei den Darmbakterien relativiert die NZZaS: «Eine Metzgerei ist schliesslich kein Biosicherheitslabor. Weil Darmbakterien für uns nicht gefährlich, sondern lebensnotwendig sind, ist auch für sie bloss ein Toleranzwert und kein Grenzwert festgelegt. Allerdings ist er mit hundert Keimen pro Gramm zehnmal tiefer angesetzt – wohl aus psychologischen Gründen.

Doch auch Würste, die ein paar tausend Darmbakterien pro Gramm enthalten, sind vollkommen harmlos. Der Begriff «verdorben», wie vom «Kassensturz» verwendet, ist in diesem Zusammenhang falsch. Beim Toleranzwert geht es nicht um Hygiene oder Lebensmittelsicherheit, sondern um Ökonomie. Wenn sich Bakterien übermässig vermehren, geben sie unter anderem Milchsäure ab. Diese erzeugt einen säuerlichen Beigeschmack. Wenn das aufgrund hoher Bakterienzahlen bereits im Laden passiert, kauft niemand mehr einen Cervelat».

Was will die Hygieneverordnung?

In der Tat ist es eine Ermessensfrage, ob man eine Obergrenze für die gesundheitlich irrelevante Gesamtkeimzahl festlegt und wie hoch sie sein soll. So argumentierte auch der Schweizer Fleisch-Fachverband SFF und wies in seinem Kommentar auf früher eingeleitete Massnahmen hin, die aber offenbar diese unguten Befunde nicht verhinderten: «Es ist uns kein Fall bekannt, der aufgrund erhöhter Werte von aeroeben mesophilen Keimen zu gesundheitlichen Nachteilen geführt hätte. Zudem wurde die Messung der Kerntemperatur 2011 in die Hygieneleitlinien integriert, um so eine ausreichende Erhitzung und damit ein Abtöten der relevanten Keime zu gewährleisten. Wir haben somit die notwendigen Massnahmen im Voraus auf eigene Initiative eingeleitet.»

Die Hygieneverordnung will aber nicht nur Gesundheitsrisiken vermeiden sondern auch sensorische Nachteile. Ein säuerlicher Beigeschmack ist für den Genuss unerwünscht, und Konsumenten wollen ja geniessen und sich nicht nur risiko-minimiert ernähren.

Im Kommentar der SFF-eigenen Zeitung «Fleisch und Feinkost» relativierte der SFF auch das Sensorik-Argument: «Erfahrungen aus der Praxis und im Ausland zeigen, dass bis zu 10 Mio. Gesamtkeime keine sensorischen Veränderungen im Produkt zu erwarten sind. Der aktuelle Toleranzwert von 1 Mio. pro g wird auch deshalb vermehrt hinterfragt bzw in der EU-Hygieneverordnung für genussfertige Lebensmittel gar nicht vorgegeben».

Ein entlastendes Argument ist ausserdem die Tatsache, dass das Kantonslabor die Proben nicht sofort analysierte sondern sie bis ans Ende der deklarierten Haltbarkeit lagerte und erst dann analysierte. Die meisten Produkte werden aber viel früher und demzufolge frischer konsumiert, bevor die Keimzahlen stark steigen.

Imageschaden auch bei Schönheitsfehler

Aber Hygiene und Sensorik sind rein technologische Betrachtungsweisen. Ungeachtet des Freispruchs für Cervelas mit 10 Mio Keimen am Ende der Laufzeit aus gesundheitlicher und sensorischer Sicht hat auch das vom Tagesanzeiger angedeutete Kriterium eine wesentliche Bedeutung: das Imageproblem. Wenn die einen Metzgereien tadellose Würste herstellen trotz Sommerhitze und andere solche mit mikrobiellen Schönheitsfehlern, dann haben letztere ein Marketingproblem. Und dies kann auf die ganze Branche abfärben, was die Kassensturz-Macher auf ihrer Suche nach Skandalen und schwarzen Schafen immer genüsslich breitschlagen.

Fazit: Es ist politisch klüger, den Konsumentenschützern keine Angriffsfläche zu bieten. Jede Metzgerei sollte daher die Analysen, Ursachenvermutungen und Verbesserungsvorschläge des Kantonslabors gründlich prüfen und durch eigene ergänzen, allenfalls mit Hilfe eines spezialisierten Hygienelabors. Dann die eigenen Analysen regelmässig wiederholen und bei Auftreten von Schwachstellen Massnahmen einleiten. Das Ziel muss sein, die gesetzlichen Normen einzuhalten (auch Toleranzwerte, solange sie gelten), Imageschäden zu vermeiden, das Vertrauen der Konsumenten zurückzugewinnen und auch das der Konsumentenschützer-Medien, die das heisse Thema auch im 2013 wohl wieder aufgreifen werden.

Notabene: Der Kassensturz bezeichnete auch einige Cervelas als tadellos. Sie stammten von folgenden Metzgereien: Meinen in Bern, Migros Micarna in Bazenheid, Spiess in Berneck, Hotz in Winterthur, Zgraggen sowie Hornecker in Zürich, Kraus in Thalwil, Rietmann in Thal, Zentrum-Metzg in Windisch (bio), Bell in Lausanne und Basel, Denner in Basel, Lidl in Zürich, Viaca in Geuensee, Keller in Zürich. (Kommentar von Chefredaktor Guido Böhler)

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