Varia | |||||||
26.8.2013 Alles wird verkehrsfähig, was sicher ist
Es sind mehr als nur kosmetische Korrekturen, was der Bundesrat im Mai 2011 dem Parlament als Botschaft zur Revision des Lebensmittelgesetzes übermittelt hat. Das Regelungsprinzip «Es ist alles verboten, was nicht ausdrücklich erlaubt ist» verliert seine gesetzgeberische Wirkung. Stattdessen findet der risikobewertende Ansatz im EU-Lebensmittelrecht Eingang in die Gesetzesrevision. Der Handel mit Lebensmitteln und Gebrauchsgegenständen (wie beispielsweise Kosmetika) erfolgt heute grenzüberschreitend. Der wichtigste Handelspartner der Schweiz bei diesen Gütern ist nach wie vor die Europäische Union (EU). Die Überprüfung der Kompatibilität und Anpassung schweizerischer Produktvorschriften (auf Gesetzes- und Verordnungsstufe) an das EU-Recht ist seit den 90er-Jahren politisches Programm. Zudem hat sich das EU-Lebensmittelrecht selbst von einem bruchstückhaft geregelten Rechtsbereich zu einer einheitlichen, in sich konsistenten Rechtsordnung entwickelt. Während die Erlasse früher in Form von Richtlinien formuliert wurden und noch in nationales Recht übertragen werden mussten, regelt die EU seit über einem Jahrzehnt das Lebensmittelrecht mehrheitlich in Verordnungen; diese sind – ohne Umsetzung ins Landesrecht – direkt anwendbar. Die Grundsätze des europäischen Lebensmittelrechts sind heute in der Basisverordnung (EG) Nr. 178/2002 festgelegt. Grundsätzlich haben sowohl das schweizerische Lebensmittelrecht als auch das EU-Recht denselben Zweck: die Aufrechterhaltung der Lebensmittelsicherheit und das Täuschungsverbot. Doch das über Jahrzehnte im nationalen Rahmen entwickelte schweizerische Recht verwendet andere Begriffe, Konzepte und Regelungsprinzipien. Eine Eigenheit des schweizerischen Lebensmittelgesetzes (LMG) ist das Positivprinzip, das im Art. 8 zum Ausdruck kommt: «Der Bundesrat legt die zulässigen Arten von Lebensmitteln fest, umschreibt sie und bestimmt die Sachbezeichnung.» Ein Lebensmittel, das a) nicht unter einer Sachbezeichnung (in den vertikalen Verordnungen des LMG) umschrieben oder b) nicht durch eine Einzelbewilligung des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) zugelassen wurde, ist in der Schweiz gar nicht verkehrsfähig. Bei der aktuell im Parlament behandelten Revision des LMG gehört die Angleichung der in der Schweiz geltenden technischen Vorschriften an diejenigen der EU zu den Hauptzielen. Gemäss den BAG-Experten ist mit diesem Schritt eine wichtige Grundlage geschaffen, damit Schweizer Behörden an den grenzüberschreitenden Schnellwarnsystemen für die Lebensmittel- und Produktsicherheit (RASFF und RAPEX) partizipieren können. Auch soll so die Mitarbeit der Schweiz im Rahmen der Risikobeurteilungen der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) erleichtert werden. Die Begriffe im Einzelnen Die vorgeschlagene Revision übernimmt die Grundsätze des geltenden Rechts und ergänzt sie mit den bisher noch fehlenden Grundsätzen aus der Verordnung EG Nr. 178/2002. Die Aufgabe des Positivprinzips heisst, dass der Ansatz des EU-Rechts, «wonach alle Lebensmittel erlaubt sind, die nicht ausdrücklich verboten sind», zur Anwendung kommen wird. Die schweizerische Stiftung für Konsumentenschutz befürchtet, dass das Schutzniveau für Lebensmittel mit dem Wegfall der Positivliste von Zutaten gesenkt würde. Dennoch wird es weiterhin möglich sein, bestimmte Anforderungen an ein Lebensmittel (beispielsweise den Mindestanteil an Fruchtsaft in einem Sirup) zu definieren, obwohl das Positivprinzip abgeschafft wird. Doch bereits in der Definition von Lebensmitteln bahnt sich der Perspektivenwechsel an. Im Artikel 3 des noch geltenden schweizerischen LMG heisst es: «Nahrungsmittel sind Erzeugnisse, die dem Aufbau oder dem Unterhalt des menschlichen Körpers dienen und nicht als Heilmittel angepriesen werden.» Im Kontrast hierzu Artikel 4 des Gesetzesentwurfs: «Lebensmittel sind alle Stoffe oder Erzeugnisse, die dazu bestimmt sind oder von denen sich vernünftigerweise vorhersehen lässt, dass sie in verarbeitetem oder unverarbeitetem Zustand von Menschen aufgenommen werden.» Lebensmittel dürfen also neuartig und ungewohnt sein. Die Verbotstafel erscheint erst dann, «wenn davon auszugehen ist, dass Lebensmittel gesundheitsschädlich oder für den Verzehr durch den Menschen ungeeignet sind.» Lorenz Hirt, Co-Geschäftsführer der Nahrungsmittelindustrie (Fial), formuliert es kurz und bündig: «Neu ist alles verkehrsfähig, was sicher ist. Andere Hinderungsgründe für die Zulassung eines Lebensmittels gibt es nicht.»
Konsequenzen hat die Gesetzesrevision zum Beispiel bei den Speziallebensmitteln. In naher Zukunft wird es in diesem Bereich zu einer Marktöffnung kommen, wenn in Zukunft nur noch auf das Kriterium der Sicherheit abgestellt wird. Das Positivprinzip hat dazu geführt, dass einige Produkte, die in der EU als Nahrungsergänzungsmittel im Verkehr sind, in der Schweiz nicht verkehrsfähig sind oder vom BAG als «neuartig» bewilligt werden müssen. Kapseln mit Pflanzenextrakten, welche keinen spezifischen ernährungsphysiologischen Nutzen – etwa eine signifikante Menge an Vitaminen – vorweisen können, erfüllen häufig nicht die Voraussetzungen für eine «Ergänzung der Ernährung» gemäss der Verordnung über Speziallebensmittel. «Der Nachweis dieses Nutzens ist oft auch ein Hindernis für die Erteilung einer Bewilligung», wie Karola Krell Zbinden, Geschäftsführerin der Vereinigung Schweizerischer Hersteller von Diät- und Spezialnahrungen, erläutert. Als ausgewiesene Expertin im europäischen Lebensmittelrecht schätzt sie die damit einhergehenden Konsequenzen ab: «Die Aufgabe des Positivprinzips erhöht damit aber auch die Verantwortung der Hersteller für den Nutzen einer solchen Pflanzencocktail-Kapsel – dies zum Schutz der Täuschung der Konsumenten.» Fortführung des Täuschungsschutzes Die Bestimmungen über den Täuschungsschutz bezüglich Lebensmittel werden aus dem geltenden Recht übernommen. Mit der vorliegenden LMG-Revision wird der Täuschungsschutz auf kosmetische Mittel und Bedarfsgegenstände ausgedehnt. Gemäss Michael Beer vom BAG ist der Täuschungsschutz in der Schweiz in den Grundzügen gleich ausgestattet wie in der EU. Er ist stark an die Konsumentenerwartung, an Traditionen, landesübliche Branchenrezepturen usw. gebunden. Die Ernährungskultur unterscheidet sich von Land zu Land, weswegen die EU-Mitgliedstaaten im nicht harmonisierten Bereich Anforderungen an bestimmte Lebensmittel in ihrem Landesrecht verankern können. Was den EU-Mitgliedstaaten vergönnt ist, kann der Schweiz nicht verwehrt werden: Der Bund kann auch in Zukunft Bestimmungen erlassen, die Imitate von Lebensmitteln wie etwa Formfleisch und Analogkäse durch Kennzeichnungsvorschriften in die Schranken verweisen. Es bleibt abzuwarten, inwiefern sich der in der Theorie vollzogene Perspektivenwechsel auf die Praxis im Lebensmittelrecht auswirken wird. (Text: Manuel Fischer) Weiterlesen: Lebensmittel-Imitate: Stein des Anstosses? | |||||||