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7.5.2014 Lebenslänglich auf Aromen programmiert Nur sehr wenige unserer Geschmacksvorlieben sind biologisch geprägt. Oft sind sie mit irgendeiner Art von Erfahrung verbunden. Die Geschmacksprägung beginnt bereits im Mutterleib und setzt sich ein Leben lang fort.
Zahlreiche Versuche mit Neugeborenen zeigen, dass diese kulturübergreifend eine hohe Akzeptanz für Süss haben. Sie reagieren sogar auf hoch verdünnte Zuckerlösungen mit einem wohligen und zufriedenen Gesichtsausdruck. Im Gegensatz dazu lehnen sie den sauren Geschmack von Zitronensäure ab und spitzen die Lippen. Gegenüber verdünnten Salz- und Bitterlösungen sind die Reaktionen indifferent. In hohen Konzentrationen wird bitter abgelehnt, bei verdünnten Lösungen zeigen Säuglinge keine Reaktion. Eine Veränderung der Bitterakzeptanz erfolgt etwa im Alter von 14-180 Tagen. Ab diesem Zeitpunkt werden auch geringer konzentrierte bittere Geschmäcker abgelehnt. Die evolutionsbiologisch sinnvolle Vorliebe für Süss (= Sicherheitsgeschmack) erklärt sich daraus, dass der süsse Geschmack ein Hinweis auf energiehaltige (Kohlenhydrate) und sichere, d. h. ungiftige Nahrung ist. Ein bitterer Geschmack warnt hingegen vor giftigen Nahrungsmitteln. Auch bei den anderen Geschmacksarten werden evolutionsbiologische Programmierungen vermutet: So soll ein saurer Geschmack z. B. vor verdorbenen Speisen warnen; salzig hingegen könnte ein Zeichen für Mineralstoffe sein. Die Geschmacksart umami (= wohlschmeckend) weist auf eine gute Proteinquelle hin, da sie natürlicherweise bei tierischen Lebensmitteln vorkommt. Muttermilch prägt Präferenzen Die Muttermilch enthält zahlreiche Aromastoffe, die die Mutter über ihre Nahrung zu sich nimmt. Natürliche Aromen aus Lebensmitteln (wie Knoblauch, Rüebli oder Vanille) sind ca. 1-2 Stunden nach dem Verzehr in der Muttermilch nachweisbar. Der Geschmack der Milch kann sich auch auf spätere Vorlieben der Säuglinge auswirken. Auch Säuglinge, die mit Flaschennahrung gefüttert werden, sammeln „Geschmackserfahrungen“, die sich auf spätere Präferenzen auswirken. Es konnte gezeigt werden, dass Jugendliche und Erwachsene, die als Säuglinge Flaschennahrung erhalten hatten, eine Ketchup-Probe bevorzugten, die mit Vanille-Aroma versetzt war. Eine einmal erworbene Vorliebe für einen bestimmten Geschmack wird auch durch andere Lebensmittel hervorgerufen, die diesen Geschmack enthalten. Konditionierung von Präferenzen und Aversionen Ist ein Geschmack oder Lebensmittel erstmal akzeptiert, kann sich das auch auf die Präferenz oder Akzeptanz von neuen Geschmacksarten oder Lebensmitteln auswirken. Dieses sogenannte flavor-flavor-learning bedeutet, dass neue Lebensmittel in Kombination mit bereits bekannten Speisen eher akzeptiert werden, als wenn sie alleine gegessen werden. Allerdings ist dieser Effekt stärker in Kombination mit negativen Geschmacksreizen ausgeprägt. Werden sensorische Eigenschaften eines Lebensmittels mit negativen Empfindungen oder Reaktionen (Übelkeit, Erbrechen während oder nach dem Verzehr) gekoppelt, prägt sich eine Aversion gegenüber diesem Lebensmittel aus, die ein Leben lang bestehen bleiben kann (sog. „Sauce-Bearnaise-Phänomen“). Ob das Lebensmittel der tatsächliche Auslöser für die Reaktion gewesen ist oder lediglich ein zeitlicher Zusammenhang besteht, spielt oft keine Rolle. Aber auch positive Empfindungen können eine Präferenz für ein Lebensmittel beeinflussen. Ein Effekt ist „flavor-nutrient-learning“. Diese Vorliebe für energie- und fettreiche Speisen wird auch durch den sozialen Kontext geprägt. Kinder mögen häufig Lebensmittel, die sie in angenehmen Situationen essen und lehnen Speisen ab, die sie mit negativen Dingen verbinden. Dieser Effekt wird verstärkt durch die unterschiedliche Auswahl von Lebensmitteln zu bestimmten Anlässen. So gibt es schmackhafte Lebensmittel (hohe Energiedichte, hoher Fett- und Zuckergehalt; z. B. Desserts) häufig in angenehmen Situationen, z. B. zu Festlichkeiten oder wenn Besuch da ist. Als weniger schmackhaft geltende Lebensmittel wie z. B. Gemüse werden hingegen oft unter Zwang gegessen: „Iss’ Dein Gemüse, sonst gibt es keinen Nachtisch.“ Damit werden sie doppelt negativ gekoppelt. Diese Störfaktoren erhöhen zusätzlich die Beliebtheit für energiereiche, schmackhafte Speisen und die Aversion gegenüber weniger wohlschmeckenden Speisen. Bekanntes ist beliebt Kaffee ist eines der Lebensmittel, die erst nach mehrmaligem Verzehr wirklich Genuss bedeuten. Häufig tastet man sich vorsichtig mit Milch und Zucker an den herben Geschmack heran, bevor tatsächlich mit Genuss getrunken wird. Diesen Effekt nennt man auch „Mere Exposure Effect“. Er beschreibt die Entwicklung von Geschmacksvorlieben durch „schieren Kontakt“ (mere exposure). Das heisst, man mag nur solche Lebensmittel und Speisen, die man regelmässig verzehrt und an deren Geschmack man sich nach und nach gewöhnt. Es wird angenommen, dass es einen direkten Zusammenhang zwischen Geschmackserfahrungen und -vorlieben gibt.
Diesem Effekt liegt ein biologisches Sicherheitsprinzip zugrunde: Durch vorsichtiges Probieren und Abwarten, ob durch den Verzehr negative Konsequenzen (Unverträglichkeit) hervorgerufen werden, haben unsere Vorfahren Geschmackserfahrungen gesammelt. Jedoch ist unser normales Essverhalten selten „schier“, sondern meistens mit Gefühlen kombiniert, sozialen Situationen und auch anschliessenden Verdauungsvorgängen, die den Mere Exposure Effect beeinflussen können. Angst vor Neuem Ein biologisches Prinzip, dass dem Mere Exposure Effect entgegenwirkt, ist die Angst vor Neuem (lat. Neophobie). Bei kleineren Kindern, insbesondere im Alter von 4-6 Monaten, in dem die Zufütterung von festen Speisen erfolgt, scheint die Neophobie minimal zu sein. Schon nach einmaliger Fütterung eines neuen Lebensmittels zeigen die Säuglinge eine deutliche Akzeptanzsteigerung. Bei Kindern im Alter von 18 bis 24 Monaten ist die Neophobie jedoch ausgeprägt. In dieser sensiblen Phase beginnen häufig auch Kinder, die zuvor „unkomplizierte“ Esser waren, neue Speisen und Geschmacksarten abzulehnen. Die Neophobie schützt Kinder in diesem Alter vor dem Verzehr schädigender oder giftiger Nahrungsmittel. In einem Alter, in dem Kinder zu laufen beginnen und eine höhere Eigenständigkeit bei der Nahrungsauswahl entwickeln, hat die neophobische Reaktion mitunter einen Überlebenswert. Eine Akzeptanz von neuen Geschmäckern stellt sich bei Kindern bis zum 5. Lebensjahr häufig erst nach fünf- bis zehnmaligem Verzehr ein. Ältere Kinder und Erwachsene verfügen über erfolgreiche Strategien, um die angeborene Neophobie vor neuen Speisen zu überwinden. Mit sogenannten flavor principles werden neue Geschmacksrichtungen und Lebensmittel mit bekannten abgeglichen und in das bestehende „Geschmacksrepertoire“ eingeordnet (z. B. „Erinnert mich an Apfel.“). Obwohl die Ablehnung neuer Speisen angeboren scheint, gibt es individuelle und geschlechtsspezifische Unterschiede.. Neophobien von Kindern können abgeschwächt oder überwunden werden. So lernen Kinder Essverhalten besonders gut von Modellen oder Vorbildern. Das können Eltern, Geschwister, Freunde oder auch Helden aus Geschichten sein. Sofern das Modell einen positiven Eindruck vermittelt, übernimmt das Kind zuweilen ein komplettes Verhaltensmuster. Lieblingsspeisen nicht jeden Tag Einerseits ist es nicht gut, zu unbedacht an neue Geschmäcker heranzugehen. Andererseits ist es aber ernährungsphysiologisch auch nicht sinnvoll, permanent die gleichen Lebensmittel zu essen. Deshalb gibt es die sog. spezifisch-sensorische Sättigung, ein biologischer Mechanismus, der uns vor einer zu einseitigen Ernährung bewahrt. Insbesondere Kinder würden zwar am liebsten täglich ihre Lieblingsspeise essen. Doch von einem Tag auf den anderen verlangen sie von sich aus etwas anderes und lehnen die bis dahin beliebte Speise ab. Die spezifisch-sensorische Sättigung kann auch beim Verzehr eines mehrgängigen Menüs beobachtet werden: Von den einzelnen Gängen kann nur eine begrenzte Menge gegessen werden und die Sättigung tritt schnell ein, so dass ein Nachschlag derselben Speise meist abgelehnt wird. Doch der nächste Gang oder ein Nachtisch passen immer noch. Versuche zeigen, dass die Präferenz für eine gerade verzehrte Speise oder eine Geschmacksqualität direkt nach Verzehr abnimmt, dieses jedoch nicht auf andere Geschmackseindrücke zutrifft.
Warum uns etwas gut schmeckt oder wir etwas nicht mögen, ist ein kompliziertes Regelwerk aus Prägung, die bereits im Mutterleib beginnt und bis ins hohe Alter andauert, Gewöhnung (Mere Exposure Effect) und biologischen Komponenten (u. a. spezifisch-sensorische Sättigung). Ein besonderes Augenmerk bei der „Geschmackserziehung“ kommt daher den Kindern und ihren Eltern zu. Es zeigt sich, dass der Kontext, in dem Familienmahlzeiten stattfinden, einen entscheidenden Einfluss auf spätere Geschmacksvorlieben haben kann und somit wesentlich zum Ernährungsverhalten beiträgt. Die Eltern nehmen hier von Anfang an eine Schlüsselrolle ein und können massgeblich an der Ausbildung von Präferenzen und Aversionen beteiligt sein. Da Geschmacksvorlieben sehr stabil sind und meist ein Leben lang halten, sollte der Situation, in der gegessen wird, immer eine besondere Bedeutung beigemessen werden. Negative Einflüsse, wie z. B. Streitgespräche während des Essens, sollten vermieden werden. Den Kindern selbst Freiräume bei der Auswahl ihrer Speisen zu lassen und mit einer gewissen Gelassenheit gegenüber zeitweiligen Aversionen zu reagieren, kann ein Schlüssel beim Erlernen von Geschmackspräferenzen sein. (Text: Eufic) | ||||||||