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9.3.2006 Deklaration allergener Zutaten Allergien sind weltweit auf dem Vormarsch, auch Nahrungsmittel-Allergien. 2-3% der Bevölkerung in Europa und USA sind davon betroffen, bei Kleinkindern 8%. 90% aller Lebensmittelallergien werden von nur wenigen Lebensmitteln verursacht, aber im Trend liegen Allergien auf Exotisches. Ein Grund ist laut Brunello Wüthrich (Bild), Leiter der Allergiestation am Zürcher Unispital: wir essen viel mehr verschiedene Lebensmittel als noch vor zehn Jahren, beispielsweise Kiwis, Pekannüsse und Cashewkerne. Fehlende Deklarationen können sich bei Allergikern fatal auswirken. Die Allergiker-Information auf den Verpackungen wurde daher durch die Revision der LMV per 1.5.02 stark verbessert: mit einer lückenlosen Offenlegung der wichtigsten allergenen Zutaten, auch wenn sie unabsichtlich ins Produkt geraten. Aber: Adrian Kunz, Jurist des Bundesamtes für Gesundheit BAG macht deutlich, dass «eine umfassende Information über alle Lebensmittel oder eine hundertprozentige Garantie nicht dem Willen des Gesetzes entspricht. Die Allergiker erhalten die Chance herauszufinden, was sie meiden sollten». Hersteller sind haftbar Sowohl Allergiker wie Hersteller müssen Vorsicht walten lassen. Aber trotz Hersteller-Sorgfalt können Lebensmittel als Naturprodukte unkontrollierte Eigenschaften aufweisen. Oder importierte Zutaten, die im Ausland weniger strengen Bestimmungen unterliegen, können durch die Maschen schlüpfen. Die Hersteller müssen ihre Vorsichtsmassnahmen fallweise festlegen, sollen aber keine unnötigen Warnungen deklarieren. Auf der andern Seite dieser Gratwanderung steht die Gesundheit der Allergiker auf dem Spiel. Bei mangelhafter Deklaration kann ein Kläger argumentieren, das Produkt sei fehlerhaft. Aber laut Thomas Jäggi, Experte für Produktehaftpflicht-Recht beim Bundesamt für Justiz «entbindet auch die korrekte Deklaration den Hersteller nicht in jedem Fall von der Haftung. Der Richter hat hier Ermessensspielraum: Er kann ein Produkt als fehlerhaft ansehen, das eine nicht deklarationspflichtige Menge eines Stoffes enthält, wenn damit zu rechnen ist, dass diese Menge häufige oder schwere Allergien hervorruft». Offizielle Zehnerliste Laut Neuerung in Art. 28 LMV wird eine Deklarationspflicht für die hierzulande zehn wichtigsten allergenen Zutaten eingeführt: siehe Box. Sie wurden aus dem Codex Alimentarius resp aus der EU übernommen und um zwei Lebensmittel ergänzt: Sellerie und Sesam. Sellerieallergie ist bei weitem die häufigste in der Schweiz, Sesamallergie zwar selten aber gefährlich. Nicht nur die Zutaten selbst sondern auch daraus hergestellte Produkte (Derivate) müssen deklariert werden. Ob auch vollraffinierte Derivate wie Sojalecithin und Erdnussöl unter Rohstoffangabe deklarationspflichtig sind, bleibt vorerst noch offen. In der Zwischenzeit müssen aber alle Derivate deklariert werden». Allerdings können die Hersteller die Übergangsfrist bis 30.4.2004 ausnützen: die FIAL, Dachverband der Schweizer Nahrungsmittelindustrie rät, nur wirklich allergene Derivate zu deklarieren. Wüthrich präzisiert, der «Reinheitsgrad sei entscheidend, aber eine Verschleppungsgefahr beim Raffinieren von Erdnuss- und Sesamöl nicht ausgeschlossen. Im Zweifelsfall lieber deklarieren». Restrisiko Für die «offiziellen zehn» gilt eine zusätzliche Bestimmung: wenn Produkte zusammengesetzte Komponenten enthalten, und eine Komponente weniger als 5% ausmacht (früher 25%), kann sie zwar unter ihrer Sachbezeichnung aufgeführt werden, aber ihre Zusatzstoffe sowie neu die «offiziellen zehn» müssen in Klammer erwähnt werden. Beispiel: in der Zutatenliste eines Kuchen: «Schokolade (mit Haselnüssen)». Können die Allergiker nun aufatmen? Wüthrich spricht von «einem wichtigen Schritt in die richtige Richtung, aber einem bleibenden Restrisiko». Und Beda Stadler, Immunologe am Berner Inselspital, ortet Schwachstellen: Er «befürwortet zwar eine Allergendeklaration, aber diese sollte sich auf die allergenen Proteine beziehen und nicht auf die betreffende Zutat als solche». Für Wüthrich hat sich «die verschärfte Deklarationspflicht bereits gelohnt, wenn in der Schweiz weiterhin keine Todesfälle durch Nahrungsmittel-Allergie vorkommen». Hersteller müssen aber mit vermehrten Fragen oder gar Reklamationen rechnen, denn die Konsumenten werden ihr Verhalten ändern: neue Möglichkeiten schaffen neue Bedürfnisse. Verschleppungen Nicht nur rezeptierte sondern auch verschleppte Zutaten müssen neu deklariert werden: Kommt eine Zutat der Zehnerliste als unabsichtliche Verschleppung ins Produkt (zB bei einem Sortenwechsel auf der Produktionsanlage), muss sie mitdeklariert werden, wenn mindestens ein Promille davon im Endprodukt vorkommt. Mit dieser Bestimmung geht die Schweiz der EU voran. Das Verschleppungsproblem ist reell wie das Zürcher Kantonslabor – führend in diesem Segment der Analytik - letztes Jahr feststellte: in 16 von 50 Snacks und Backwaren fanden sie nicht deklarierte Erdnussproteine. Und in einer Umfrage gaben 92% von Allergikern an, ungewollt Erdnuss konsumiert zu haben. Bisher deklarieren die Hersteller in heiklen Fällen oft die pragmatische Formel «kann .. enthalten». Diese wird aber laut Urs Klemm vom BAG «nach der Übergangsfrist nicht mehr geduldet, weil sie von Allergikern abgelehnt wird und als Haftungsschutz missbraucht werden könnte». Auch Wüthrich spricht sich dagegen aus. Der Promille-Grenzwert ist ein Kompromiss: Wüthrich hatte Nulltoleranz gefordert und betont, auch der Sensibilisierungsgrad des Allergikers sei massgebend. Und: «wenn empfindliche Analysenmethoden vorliegen, kann man den Grenzwert senken». Tiefere Grenzwerte, dort wo nötig, fordert auch die Stiftung für Konsumentenschutz SKS. Auch Stadler bleibt skeptisch, hält aber die Protein-Konzentration für wichtig: «Was zählt ist die effektive Menge des verzehrten Nahrungsmittels, weil echte Allergene den Magen passieren und sich im Darm akkumulieren können. Aber die Grenzwerte, die zu klinischen Symptomen führen, sind selten bekannt. Allergologen haben hier einen Forschungsbedarf». Laut Wüthrich beginnt die Wirkung der Allergene jedoch schon in der Mundschleimhaut. Die Zürcher Allergiestation führt derzeit eine Studie zur Ermittlung der Soja- und Erdnuss-Schwellendosis durch. Deklarations-Dilemma In besonders riskanten Fällen ist laut FIAL eine «Information für Allergiker: «kann Spuren von .. enthalten» sinnvoll. Aber FIAL-Geschäftsleiter Beat Hodler deutlich: «Dies darf kein Persilschein für Unsorgfalt werden». Wüthrich wehrt sich gegen diese Informationsart, aber Jacqueline Bachmann von der SKS «sieht das Dilemma», fordert jedoch Fairness, da «die Allergiker sonst fast nichts mehr essen dürfen. Wenn eine Allergiker-Information nicht als Haftungsschutz missbraucht wird, ist sie bei gefährlichen Allergenen akzeptabel». Zum Einen ist diese Formel in der EU toleriert, zum Andern hiesse die einzige Alternative: klinische Reinheit. Für Hodler ist klar: «Getrennte Räume oder Produktionsanlagen zB für Teigwaren mit und ohne Eier wäre unzumutbar. Aber in 95% der Fälle kann man durch QS-Massnahmen die Verschleppungen unter ein Promille senken». Nicht für sinnvoll hält er, am Ende der Zutatenliste «Spuren von ..» zu deklarieren, weil dies einer Täuschung gleichkommt, falls sie nicht vorhanden sind. Und gar absurd wäre, solche Spuren der unanfechtbaren Deklaration halber zuzusetzen. Fazit Mit der verschärften Deklarationspflicht sind wahrscheinlich die meisten Informationsbedürfnisse der Allergiker abgedeckt. Lücken bestehen noch bei allergenen Zutaten ausserhalb der Zehnerliste, wenn eine Komponente unter 5% eines zusammengesetzten Produktes ausmacht, zB Paprika in der Würzmischung einer Wurst. Eine weitere Lücke ist beispielsweise Erdnuss als Verschleppung unter einem Promille, da bereits 0.2 mg Erdnuss für Allergiker gefährlich wird. In solchen Hochrisiko-Fällen wäre der Hinweis für Allergiker eine pragmatische Lösung. Dazu müssten aber das BAG und die Allergologen Hand bieten. Dieses Konzept würde dann einer Prävention auf zwei Ebenen entsprechen. Eine dritte Ebene ist die Eigenverantwortung: Wenn alle Stricke reissen, muss der Allergiker selbst handeln und sein Notfallset einsetzen. Auch das umgekehrte Risiko der unnötigen Warnung darf man nicht vernachlässigen. Stadler gibt zu bedenken, dass «Allergiker unvorsichtig werden können, wenn sie ein versehentlich gegessenes Produkt mit Allergendeklaration unbeschadet überstehen. Darin könnte das Allergen unterschwellig vorliegen, in einem andern Produkt hingegen hochdosiert». Er rät daher im Interesse der Allergiker, «nicht übervorsichtig zu deklarieren, um keine Verwirrung zu stiften». Übervorsichtig könnte der Hinweis auf nicht allergen wirkende Verschleppungen unter einem Promille sein. Stadler findet, «den Hinweis für Allergiker nur sinnvoll, wenn der Gehalt an allergenen Proteinen erwiesen ist». Inkonsequenz bei Tartrazin? Weiterhin gilt: Zusatzstoffe müssen auch bei zusammengesetzen Zutaten immer deklariert werden. Dies ist eine sehr weit gehende Transparenz, die von der allergologischen Bedeutung her kaum gerechtgertigt ist. Nur 0.2% der Bevölkerung reagieren auf Zusatzstoffe. Echte «lebensbedrohliche Allergien bestehen gegen die Farbstoffe Cochenille und Annatto sowie gegen Stabilisatoren wie Gummi Arabicum und Guar», so Wüthrich. Pseudo-Allergien sind bei den Farbstoffen wie Tartrazin, Konservierungsmitteln wie Benzoesäure oder Sulfit u.a. erwiesen. Inkonsequent erscheint die Zulassung des Azofarbstoffes Tartrazin, obwohl in seiner Anwendung eingeschränkt. Diesen Kompromiss machte das BAG laut Klemm aus dem Ziel der «möglichst vollständigen Anpassung an die EU einerseits, und den Forderungen von Allergologen, Konsumenten und Süsswarenindustrie andererseits». Echte und unechte Allergien Eine echte allergische Krankheit entsteht, wenn das Immunsystem auf kleine Mengen harmloser Stoffe überreagiert. Allergene sind immer einzelne Proteine oder Glycoproteine, laut Wüthrich lösen auch Peptide bei hochsensibilisierten Personen schwere Reaktionen aus. Verzehrt eine sensibilisierte Person allergenhaltige Produkte, werden Botenstoffe wie Histamin freigesetzt, die Entzündungen hervorrufen. Dabei reichen oft kleine Mengen, «aber die Schwellendosis ist die Gretchenfrage», so Wüthrich: «Sie hängt vom Sensibilisierungsgrad und vielen Co-Faktoren ab. Bei durchschnittlich sensibilisierten Allergikern liegt zB die Schwelle für Erdnuss bei 0.2 mg (resp 100 Mikrogramm Erdnussprotein)». Die Symptome reichen von Juckreiz über Durchfall und Erbrechen bis zu Asthma. Im schlimmsten Fall können Allergiker einen tödlichen «anaphylaktischen Schock» erleiden, eine akute Herz-Kreislaufstörung. Eine besondere Form der echten Allergie ist die Kreuzallergie, ein Beispiel: Birkenpollen-Allergiker vertragen oft auch keine Haselnüsse. Laut Stadler sind die meisten Allergene verarbeitungs- und verdauungsstabil. Einige werden beim Erhitzen oder Ansäuern schwächer. Früchte und Gemüse wirken oft nur im rohen Zustand. Bei den unechten Allergien, auch Pseudoallergien oder Unverträglichkeit genannt, ist das Immunsystem nicht beteiligt, aber die Symptome sind ähnlich. Die Behandlung ist bei allen Arten dieselbe: die Betroffenen müssen die Auslöser konsequent meiden und sich zu diesem Zweck sehr gut über die Zusammensetzung der Produkte informieren. Hochsensible Allergiker müssen ein Notfallset mit Medikamenten (Anti-Histaminikum) und einer Adrenalin-Spritze griffbereit haben. Die Zehnerliste der deklarationspflichtigen allergenen Zutaten SD: Schwellendosis bei durchschnittlich sensibilisierten Allergikern (Quelle: Wüthrich) Glutenhaltiges Getreide Meistens eine unechte Allergie namens Zöliakie, bei welcher ein Gendefekt vorliegt: das Kleberprotein Gluten (in Weizen, Roggen, Gerste, Hafer, Dinkel) zerstört die Dünndarm-Zotten. Die Beschwerden äussern sich als Blähungen, Durchfall, Erbrechen, Ekzem. Selten kommt auch eine echte Allergie vor: gegen Proteine, die sich vor allem unter der Schale befinden. Milch Hier gibt es zwei Arten: 1. Die echte Kuhmilchallergie auf Caseine oder Molkenproteine, die sehr potente Allergieauslöser sein können. Caseinallergene sind technologisch sehr stabil, jene der Molkenproteine sind hitzeempfindlich. Milch anderer Wiederkäuer wird meist auch nicht vertragen. SD = 5g. 2. Die Lactose-Unverträglichkeit, bei welcher die betroffene Person ungenügende Aktivität des Verdauungsenzyms Lactase besitzt, aber meistens Sauermilchprodukte und gereiften Käse verträgt. Eier Echte Allergie. Extreme Allergiker können eine Kreuzallergie mit Hühner- und Trutenfleisch sowie Vogelfedern haben. Fisch Eine echte Allergie mit sehr aggressiven hitzestabilen Allergenen. Salzwasserfische sind häufiger allergen als Süsswasserfische. Mit Fischmehl gefütterte Hühner liefern ausserdem Fleisch und Eier, die ebenfalls allergen wirken können. Krebstiere: Eine echte Allergie. Die Reaktion kann sehr heftig ausfallen, von Hautausschlag und Durchfall bis zum anaphylaktischen Schock. SD bei Crevetten: 4g. Soja Eine echte Allergie. Die Sojabohne enthält verschiedene Proteine, deren allergene Potenz und Hitzestabilität unterschiedlich ist. SD in Trockenmasse: 1g. Sojaöl ist in der Regel nicht allergen. Hartschalenobst Umfasst alle Arten von Nüssen, Mandeln, Pistazien, Pinienkernen. Echte Allergie auf sehr potente Allergene. SD bei Haselnuss: < 1.4g. Erdnüsse Eine echte und gefährliche Allergie mit hitzestabilen Allergenen. SD = 0.2 mg (!) Vollraffiniertes Erdnussöl kann noch wirken, wenn Proteinspuren vorhanden sind. Sesam Eine echte und gefährliche aber sehr seltene Allergie. Vollraffiniertes Sesamöl kann noch wirken, wenn Proteinspuren vorhanden sind. Sellerie Betrifft die Knolle. SD < 0.7g. Auch Selleriesalz kann wirken. Eine echte und oft eine Kreuz-Allergie mit Birken- oder Beifusspollen. Ob Kochen die hochallergene Kraft zerstört, hängt davon ab, gegen welchen Bestandteil die Allergie besteht. Bericht im Oktober 2002 in der «Lebensmittelindustrie» erschienen. Autor: Dr. Guido Böhler | |