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2.9.2015 Erforschung von Food-Konsumtrends Die Sichtbarmachung von Trends und ihren Ursachen erzeugt nicht nur Aha-Erlebnisse sondern gibt viel zu reden und nachzudenken. Bericht in 2 Teilen. Erster Teil: Aktuelle Technologietrends. Zweiter Teil: Welche Konsumtrends konstatieren die bekannten Trendforscher? Spezialisiert auf Konsumtrends sind das deutsch-österreichische Zukunftsinstitut und das Schweizer Gottlieb Duttweiler Institut GDI. Die Trendforscherin Hanni Rützler vom Zukunftsinstitut (Bild) gab einen Food Report 2015 heraus über die Themen Lebensmittel, Ernährung, Konsumverhalten und Retail. Er bietet Produzenten, Händlern und Gastronomen Orientierung sowie Anregungen zur Entwicklung neuer Produkte, Dienstleistungen und Geschäftsmodelle. Einige Themen daraus: Hybrid Food: Dem Mischen und Kreuzen sind in der Globalkultur keine Grenzen gesetzt. Das gilt nicht nur bei Rezepturen, sondern auch für neue hybride Konzepte im Handel und der Gastronomie. Beispiel: Cronut, eine Kreuzung zwischen Croissant und Doughnut. Food Pairing: Die optimale Kombination von Aromen ist die Crux aller guten Küchen. Mit der wissenschaftlichen Erforschung idealer Aroma-Paarungen eröffnen sich noch spektakulärere Möglichkeiten für Food-Kreateure. Beispiel: Weisswurst mit Brezel. Soft Health: Gesund essen heisst in Zukunft nicht mehr verzichten. Nun halten kulinarisch ansprechende und zugleich gesunde Konzepte auch Einzug in die Gastronomie und den wachsenden Food-Service-Bereich. Beispiele: Zuckerreduktion, Nahrungsfasern-Anreicherung, Erhöhung des Gemüseanteils. DIY Food: „Do it yourself“ stellt ökonomisch die reinste Form der Individualisierung dar. Gepaart mit Kollaborationslust hebt der DIY-Food-Trend das „Projekt Prosument“ auf eine neue Ebene. Beispiele: Herstellung in Haushaltküchen von Brot, Joghurt, Glacé, Rauchlachs etc Curated Food (Orientierunghilfen): Der Konsument von morgen – so die Trendprognose aus dem Food Report 2014 – wird eine kuratierte Auswahl mehr als eine grenzenlose schätzen. Je nach individuellen Bedürfnissen nimmt er unterschiedliche Curated-Food- Angebote wahr. Der Handel reagiert auf diesen Trend mit der Erweiterung spezieller Retail Brands (von Budget über Bio bis zu Premium); Organisationen für Gesundheit und Konsumentenschutz sowie engagierte Entwickler bieten zahlreiche Apps, die dem Verbraucher bei der Orientierung im Lebensmittelüberangebot im Supermarkt helfen wollen. Chance für fokussierten Fachhandel Das gewachsene Bewusstsein für Lebensmittelqualität und der Wunsch nach ausgewählten Produkten ist auch ein Grund, warum Feinkosthändler und Spezialitätengeschäfte (mit bewusst reduziertem Sortiment) Zulauf verzeichnen und die Zahl kleiner Läden mit gezieltem Angebot (z.B. bestimmten Lebensmittelgruppen, regionalen Produkten) wieder zunimmt. Denn wer einkauft, will heute etwas erleben.
Flexitarier setzen weniger auf Moral und mehr auf Pragmatismus, daher gehört ihnen die Zukunft. So lautete das Resümee im Food Report 2014. Mittlerweile hört der Flexitarier auch schon auf weitere Namen. Ob Teilzeitvegetarier oder Vegavore – es steckt immer ein ähnliches Essverhalten dahinter: deutlich weniger Fleisch und Wurst, viel mehr Gemüse und Getreideprodukte. Die Folge: Vor allem die Gastronomie orientiert sich verstärkt an diesem Esstypus der Zukunft. Fleischkonsum und die Kritik daran Der Themenschwerpunkt des Food Report 2015 widmet sich dem Fleisch. Vor dem Hintergrund des weltweit rasant zunehmenden Konsums tierischer Lebensmittel werden mögliche Alternativszenarien analysiert, die das Welternährungsproblem ohne weitere negative Auswirkungen auf das Ökosystem lösen könnten. Die zentralen Fragen sind: Bieten Fleischersatzprodukte sowie eine Reduzierung des Fleischkonsums eine realistische Perspektive und können neue proteinhaltige Nahrungsmittel (In-Vitro-Fleisch oder Insekten) die konventionelle Fleischproduktion ergänzen? in grossen Teilen der westlichen Industriegesellschaften ist die jahrhundertealte Sehnsucht nach mehr Fleisch bereits gestillt: Der seit den 1960er Jahren rasant gestiegene Fleischkonsum stagniert in Europa langsam auf hohem Niveau und ist in den USA sogar rückläufig. Dagegen wächst der „Fleischhunger“ in den Schwellenländern und in den boomenden Wirtschaftsnationen Asiens und Südamerikas immer noch weiter. Fleisch ist – wie einst im Nachkriegseuropa – nun in China, Brasilien und den anderen BRICS-Staaten Symbol des Aufstiegs. Die Gründe, warum Fleisch allmählich seinen Status als esskulturelles Leitprodukt in Europa und den USA verliert, sind: immer wiederkehrende Lebensmittelskandale, anhaltende Gesundheits- und Nachhaltigkeitsdebatten, neue ethische Diskurse, aber auch die kulinarische Aufwertung von Gemüse und Getreideprodukten in der gehobenen Gastronomie. Unter dem Motto „Gemüse ist das neue Fleisch“ wurden die ehemaligen „Beilagen“ – von vielen Spitzenköchen mit signature dishes geadelt – zum Symbolträger für Gesundheit und Connaisseurship. Trend zum Edlen aber auch Währschaften Nicht nur die Wahrnehmung, sondern auch die Wertschätzung von tierischen Produkten verändert sich. Somit wird endlich der Weg frei für neue qualitative Differenzierungen. In den Fachgeschäften gibt es nicht mehr nur „Rindfleisch“ zu kaufen, sondern spezifische Fleischrassen wie Charolais, Limousin, Galloway, Angus und Hochlandrind. Der Schweinebraten kommt auch von Wollschweinen und anderen selten gewordenen Rassen. Dry Aged-Beef ist ebenso nicht mehr wegzudenken wie Biopoulet. „Nose to Tail Eating“ gewinnt deutlich an Popularität. Fleischliebhaber aus kulinarischer Überzeugung bestellen inzwischen Fleischspezialitäten von Qualitätsproduzenten via Internetversand, lernen das Handwerk des Zerlegens und Wurstmachens in Metzgerkursen, z.B. bei Meat Butcher & Delicatessen in London, oder besuchen zumindest einen Grillkurs. Zugleich aber führen uns die Diskussionen über den „langen Schatten der Viehzucht“ – so der deutsche Titel des 2006 erschienenen Berichts der FAO – vor Augen, welch negative Folgen der weltweit hohe Fleischkonsum für die Umwelt hat. Laut Schätzungen der UN-Landwirtschaftsorganisation soll die Fleischproduktion von derzeit 229 auf 465 Millionen Tonnen im Jahr 2050 noch weiter gesteigert werden. Für die Milchproduktion ist ein Zuwachs von derzeit 580 auf 1043 Millionen Tonnen prognostiziert; mit – so die Befürchtung der FAO-Experten – gravierenden Umweltfolgen. Wie entstehen Trends? Ein kürzlich erschienener Beitrag in der NZZ am Sonntag geht noch einen Schritt weiter und analysiert die psychologischen Ursachen einiger Trends: Die Gesellschaft ist informiert, liest, surft im Internet, ist weltweit vernetzt und wird entsprechend mit Informationen überflutet. Gibt es eine Beere, die neu als Superfood gehandelt wird, kriegen wir es mit. Wir wissen, was für unsere Knochen das Beste ist, was für die Tiere und was für die Umwelt. Denken wir ökologisch und haben ein Herz für Tiere, ernähren wir uns vegan. Wir zählen Kalorien, wollen möglichst wenig Fett essen, weil es uns näher an die Badi-Figur bringt und sich sowieso viel vitaler anfühlt. Wir verzichten auf Laktose oder Gluten, weil wir denken, dass es gesünder ist (was übrigens nur für an Zöliakie Leidende, also ein Prozent der Gesellschaft, zutrifft). Wir wollen alles richtigmachen, uns gut fühlen - mit uns selber und unserem Gewissen. Verzicht heisse das Zauberwort, könnte man also meinen. Mit ihm sind aber die Supermarktregale, Menukarten und schliesslich unsere Teller auch um diverse Lebensmittel reicher geworden, deren Namen wir vor ein paar Jahren noch nicht einmal kannten; Lebensmittel, die ihre vermeintlich ungesünderen, moralisch verwerflicheren Pendants ersetzen und uns den Genuss ohne schlechtes Gewissen ermöglichen wollen. Wir backen mit Chia-Samen statt mit Eiern, streuen vegane Hefeflocken über unsere Spaghetti und verspeisen Noix gras anstelle von tierverachtender Foie gras. Individuelle Food-Vorlieben als Selbst-Inszenierung Das riesige Angebot zwingt uns, zu selektionieren. Was auf den Teller kommt, entscheidet jeder selber. Diese Freiheit stellt eine Möglichkeit dar, sich abzugrenzen, individuell zu fühlen. Ich bin, was ich esse, lautet die Devise. Essen soll nicht mehr nur den Magen füllen, sondern viel mehr: Es wird zur politischen Haltung, zum Mittel, um zu zeigen, woran man glaubt, und zum Indikator dafür, in welcher Szene man sich bewegt. Die Sensibilität für das Thema Ernährung sei aber auch eine Reaktion auf technologische Fortschritte, die hochindustrialisierte Massenproduktion und auf die damit verbundenen Foodskandale, sagt Trendforscherin Daniela Tenger vom GDI. Das Resultat: Vertrauensverlust und ein verstärktes Bedürfnis, zu wissen, woher die Steaks auf dem Teller kommen - wenn man überhaupt noch welche grilliert. Konsumenten wollen bio, regional, gesund. Scrollt man sich einmal durch Social-Media-Feeds, wird man im Trendgedanken bestätigt: Food-Posts, also Fotos von Köstlichkeiten, mit Filtern und Hashtags versehen, häufen sich auf Facebook und Instagram. Quinoa-Salate geben mehr Likes als Reispfannen, Edamame-Schalen mehr als Erdnüsse. Kompetenz im Bereich Essen gilt heute als Statussymbol, über das wir uns definieren, sagt auch Tenger. Bleibt die Frage, ob das ständige Streben nach Gesundheit und Ethik auch gesund ist. «Selektivität ist etwas Gutes», sagt Ernährungswissenschafter David Fäh, «wichtig ist, dass man damit umgehen kann, wenn man einmal über die Stränge schlägt.» Wer Entscheidungen für oder gegen ein Nahrungsmittel nur nach Gewissen fälle, der isoliere sich von seinem sozialen Umfeld und entwickle krankhafte Züge. Wir dürfen also ersetzen oder nicht ersetzen, wichtig ist einzig, dass wir geniessen. Was sagen Trendforscher über ihre Tätigkeit? Die Studien des GDI Gottlieb Duttweiler Institute sind das Resultat seiner Trendforschung. Doch was heisst das genau? Karin Frick, Leiterin der GDI-Forschungsabteilung, über die Arbeitsmethoden des Zukunftsinstituts: Die Trendforschung untersucht das Neue. Sie spürt bahnbrechende Entwicklungen auf. Sie ist ein Frühwarnsystem für Disruptionen und Innovationen, die in den nächsten fünf bis zwanzig Jahren auf uns zukommen und unsere Welt nachhaltig verändern: wie wir leben, arbeiten, denken, fühlen, essen und einkaufen werden. Um das zu leisten, arbeitet das GDI mit unterschiedlichen Methoden. Es nutzt Erkenntnisse aus der Naturwissenschaft (Sciences) und der Geisteswissenschaften (Humanities). Es beobachtet aktuelle Moden, Hypes und Strömungen des Zeitgeists. Die Trendforschung setzt auf «Megatrends». Sie entwerfen eine Art Meteosatbild der wichtigsten soziokulturellen Klimaveränderungen, die den Wetterwechsel von Wirtschaft, Gesellschaft und Konsum bestimmen. Megatrends sind übergeordnete, langfristige und substanzielle Veränderungen von Strukturen, Prozessen, Werten und Einstellungen, die branchen- und länderübergreifend wirksam sind. Trendforschung ist eine Grenzwissenschaft. Für die Deutung der Zukunft gibt es keine allgemein anerkannten Methoden und Standards, keine Formel, mit der sich errechnen liesse, wie sich Märkte und Menschen verändern. Trotz grossen Fortschritten bei Trendmonitoring und Datamining hat die die Zuverlässigkeit von Prognosen nicht zugenommen. Megatrends sind immer auch Geschichten über die Zukunft. Am Anfang von grossen Entwicklungen stehen oft fantastische Ideen, die schliesslich realitätsmächtig werden. Ob die Ideen auf Fiktion oder auf wissenschaftlichen Fakten beruhen, ist nicht entscheidend, denn die Fantasie regt den Innovationstrieb der Wirtschaft an. Die Zukunft gehört denen, die die beste Geschichte darüber erzählen. So werden Prognosen oft auch gezielt eingesetzt, um die öffentliche Meinung und den Markt zu beeinflussen, um zu sensibilisieren, zu alarmieren – und manchmal auch zu manipulieren. «Die Grenzen des Wachstums» 1972 des Club of Rome und «An Inconvenient Truth», der Film von Al Gore zur drohenden Klimakatastrophe, zielten darauf ab, einen Bewusstseinswandel in Gang zu bringen. Umgekehrt sollen fantastische Prognosen (beispielsweise über «Dinge, die denken» oder «Superfoods, die heilen») Investoren und Konsumenten neugierig und offen für technische Innovationen machen. Zukunftsinstitut wagt Prognosen Das Zukunftsinstitut über seine Trendforschung: Sie beschreibt Veränderungen und Strömungen in allen Bereichen der Gesellschaft – nicht wie oft und zu oberflächlich angenommen nur in Bereichen der Konsum- und Modewelt. Durch die Fortschreibung aktueller Veränderungen werden Prognosen für deren weitere Entwicklung mit einem Horizont von 5 bis 10 Jahren getroffen. Trendforschung beginnt zwar mit der Trendbeobachtung, die auch auf der Analyse chronologischer Zahlenreihen beruht, endet hier jedoch nicht. Entscheidend für die Qualität der Trendforschung ist die richtige Verknüpfung und Vernetzung isolierter Trendbeobachtungen. Denn Trends sind weniger singuläre Beobachtungen, sondern vielmehr komplexe Gebilde, die in Verbindung zu vielfältigen und -schichtigen Veränderungen stehen. Qualitativ hochwertige Trendforschung bedeutet, „schwache Signale“, die am Beginn jeder Trendentwicklung stehen, zu erkennen und vor allem: daraus soziokulturelle Verschiebungen zu lesen und in den übergreifenden Kontext einzuordnen. (Infos aus: www.horx.com, www.gdi.ch, www.zukunftsinstitut.de) Weiterlesen: Gestern Fusionsküche, heute Hybrid Food | ||