Food aktuell
Varia
15.8.2008
EU-Freihandel nach verpasstem WTO-Durchbruch?

Jetzt erst recht! Editorial von Balz Horber, Direktor des Schweizer Fleisch-Fachverbandes SFF

Das «Null-Ergebnis» der WTO-Ministerkonferenz von Ende Juli wird unterschiedlich interpretiert. Zwischen einem definitiven «Scheitern» der Doha-Runde und lediglich einem «Verhandlungsunterbruch» waren alle Formulierungen zu hören. Ob, zu welchem Zeitpunkt und in welcher Form die Debatten zur Förderung des Welthandels fortgesetzt oder neu aufgegleist werden, ist tatsächlich unklar.

Den Stellungnahmen der wichtigsten Akteure ist zu entnehmen, dass jene Punkte, in denen Einigkeit erzielt wurde, weiterhin aufrecht erhalten bleiben sollen. Diese werden – was den Agrarsektor anbetrifft – in einem Schlussbericht festgehalten, was aktenkundig macht, dass eine Zollsenkung in der Grössenordnung von 60 Prozent im Prinzip ausgehandelt, wenn auch (noch) nicht finalisiert worden war.

Wachsende Ambitionen

Deshalb ist den Erfahrungsberichten der Handelsdiplomaten besondere Beachtung zu schenken, wonach bisher bei allen Verhandlungsunterbrüchen mit einer gewissen Verzögerung die Forderungen nach Abbau des Grenzschutzes erhöht und nicht etwa reduziert wurden, wie man in schweizerischen Landwirtschaftskreisen zu hoffen scheint.

Würde sich allerdings erweisen, dass die Welthandelsorganisation überhaupt unfähig wurde, multilaterale Liberalisierungsrunden durchzuführen, wäre dies für die Schweiz – und damit auch für die schweizerische Ernährungswirtschaft – der schlechteste aller denkbaren Fälle. Die Schweiz als Exportnation braucht den freien Zugang zu ausländischen Märkten. Die aufziehende Rezession macht besonders augenfällig, wie wichtig die Impulse des Welthandels für die Binnenkonjunktur sind.

Export überlebenswichtig

Die ersten Zeichen dafür, dass das «Null-Ergebnis» vom 31. Juli die an uns gestellten Ansprüche erhöht und nicht etwa mildert, sind bereits erkennbar. Wenn der Zugang zu den Exportmärkten nicht auf globaler Ebene gesichert werden kann, muss dies zwangsweise «im Einzelsprung», also im Rahmen individueller Abkommen mit den verschiedenen Handelspartnern geschehen.

Die interessanten Märkte sind beispielsweise die USA oder die grossen aufstrebenden Schwellenländer wie Brasilien – fast ausnahmslos Partner, die daran interessiert sind, im Gegenzug zum Kauf schweizerischer Güter und Dienstleistungen Agrarprodukte in unser Land zu liefern. Wenn zu den Auswirkungen der jüngsten Entwicklung in der WTO vieles Spekulation ist, bleibt eines sicher: Der Druck zur Öffnung des hiesigen Agrarmarktes steigt.

Problematische Individualabkommen

Es gibt ernst zu nehmende Experten, die vor der jetzt eingeleiteten Entwicklung warnen. Vereinbart jedes Land mit jedem anderen besondere Handelsabkommen, entsteht ein unübersichtliches Netz von Verträgen, das mehr als nur theoretische Nachteile hat. Die Unternehmen kämpfen mit fast unüberwindlichen administrativen Schwierigkeiten des Ursprungsnachweises, vor allem bei komplexen Produkten mit vielfältigsten Komponenten, wie sie das Markenzeichen der schweizerischen Wirtschaft sind.



Lokal hergestellte Produkte im Ausland mit Hinweisen auf ein Schweizer Rezept («Swiss Style») sind deutliche Zeichen für die Beliebtheit der Schweizer Produkte. Da heute die Schweizer Originale oft preislich nicht konkurrenzfähig sind, werden sie imitiert. Bild: in Österreich hergestellte «St.Galler Wurst»


Einen kleinen Vorgeschmack davon hat man auch in der schweizerischen Fleischbranche im Zusammenhang mit den Bindenfleischexporten. Wären die Mechanismen der WTO lahm gelegt, würde dies einerseits dem schweizerischen Agrarsektor nichts nützen, aber anderseits der gesamten Wirtschaft, von welcher auch Bauern und Metzger abhängig sind, enormen Schaden zufügen.

Einzige Offensivstrategie

Man kann es drehen und wenden, wie man will: Aus gesamtwirtschaftlicher und landwirtschaftspolitischer Sicht, ebenso wie unter den besonderen Gesichtspunkten der Fleischbranche, führt kein Weg an einem umfassenden europäischen Freihandel im Agrar- und Lebensmittelbereich vorbei. Mit ihm werden gleichzeitig die engsten Nachbarn und gegen dreissig Länder erfasst, die zusammen unseren weitaus wichtigsten Handelspartner ausmachen.

Ein Agrarfreihandelsabkommen mit der EU eröffnet Perspektiven auch für Exporte, weil es den uns nahe liegenden Wirtschaftsraum erschliesst und die technisch-administrativen Hemmnisse beseitigt. Es zwingt uns aber auch, die Herausforderung des Wettbewerbs in Primärproduktion und Verarbeitung anzunehmen.

Neue Ausrichtung

Während in Abkommen mit Überseeländern der Mechanismus auf der Hand liegt, schweizerische Industriegüter und Finanzdienste zu verkaufen und als Gegenleistung Agrarprodukte zu importieren, haben wir mit einem europäischen Agrarfreihandelsabkommen die Chance, nicht nur als Manövriermasse zu dienen, sondern auch einmal offensiv zu spielen.

Aus dem «Null-Ergebnis» dieses Sommers in Genf ist deshalb der Schluss zu ziehen, dass das Freihandelsabkommen mit der EU im Agrar- und Lebensmittelbereich, für welches in den nächsten Wochen die Verhandlungen beginnen, noch wichtiger wird, als es unter dem Aspekt einer möglichen Doha-Runde bereits war. Dass allerdings auch dieser Weg steinig ist, steht ausser Frage. Aber er hat ein klares Ziel. Deshalb muss er jetzt erst recht beschritten werden.

Text: Balz Horber. Bild und Bildlegende: foodaktuell.ch

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