Food aktuell
Varia
3.2.2009
Pseudoallergie: Modekrankheit oder Sozial-Terror?



Beda M. Stadler, Professor für Immunologie in der Weltwoche 5/2009: Das massenhafte Auftreten von Allergikern liegt womöglich daran, dass kein Interesse besteht, die Häufigkeit auf ein vernünftiges Mass zu reduzieren. Da eine Allergie eine Krankheit ist, für die man sich nicht schämen muss, wird sie gerne missbraucht. Hasst jemand Knoblauch, kann er behaupten, allergisch zu sein. Das Paradebeispiel für den allergischen Sozialterrorismus ist der Gast mit Nussallergie im mondänen Restaurant.


Diese Woche in der Weltwoche: Allergien liegen im Trend. Überempfindlichkeiten sind als neue Zivilisationskrankheiten gefragt. Das massenhafte Auftreten von Allergikern allerdings macht stutzig. Viele Patienten simulieren. Manche Therapien grenzen an Voodoo.

Allergien scheinen zu grassieren. Kaum einer, der sich nicht damit brüstet, gegen irgendetwas allergisch zu sein. Zum Wunsch, gesund sterben zu wollen, kommt die Einsicht, an etwas leiden zu müssen, was aber höchst selten jemanden umbringt. Mit einer Allergie lässt sich oft gut leben. Vor Gesundheit strotzende Menschen haben schliesslich etwas Arrogantes.

Eine Zeitlang schien es, der Übeltäter, der uns mit Allergien bedroht, könnte gefasst sein. Man glaubte, es sei die Umweltverschmutzung. Allergologen stürzten sich auf die Umwelthypothese. Weltweit bestätigten seither Wissenschaftler, dass selbst in Neuseeland, wo die Luft kristallklar ist, Allergien am Zunehmen sind. Der Gipfel aller Verschwörungstheorien ist allerdings die Behauptung, gentechnisch veränderte Nahrungsmittel würden vermehrt zu Allergien führen.

Möglicherweise wurde die Häufigkeit der Allergien überschätzt. Ein Problem könnte darin bestehen, dass den Allergologen Labortests zur Verfügung stehen, die sehr empfindlich feststellen, ob jemand auf einen allergenen Stoff sensibilisiert ist. Das heisst aber nicht, dass er deswegen Symptome hat. Ein anderes Problem besteht darin, dass selbst ein Allergologe oft nicht unterscheiden kann, ob sein Patient nun ein echter Allergiker oder bloss ein cleverer Simulant ist. Da eine Allergie eine Krankheit ist, für die man sich nicht schämen muss, wird sie gerne missbraucht. Oft tun Mitmenschen dies unbewusst. Hasst jemand Knoblauch, kann er behaupten, allergisch zu sein.

Das Paradebeispiel für den allergischen Sozialterrorismus ist der Gast mit Nussallergie im mondänen Restaurant. Normalerweise würde diese graue Maus von niemandem beachtet werden, da aber ihr Leben auf dem Spiel steht, muss der Küchenchef am Tisch antraben, damit nirgendwo auch nur die Spur eines Nüsschens vorhanden sein wird. Eine Nussallergie verleiht das Recht, das Menü inklusive Sitzordnung im Restaurant zu verändern. Der Simulant erhält ungeteilte Aufmerksamkeit und kriegt obendrein das Mitgefühl oder gar die Liebe und Barmherzigkeit aller Anwesenden. Hätte die graue Maus eine richtige Krankheit, zum Beispiel Hämorrhoiden, würde ihr der gleiche Trick im Restaurant buchstäblich in die Hosen gehen.

Echte Allergiker

Selbstverständlich gibt es echte Allergiker. Sie leiden, und einige sind tatsächlich vom Tod bedroht, falls ihre Sensibilisierung weit fortgeschritten ist. Es sterben in der Schweiz leider Allergiker an Bienenstichen, aber meines Wissens ist bei uns noch nie jemand an einer Erdnuss gestorben (ausser Kleinkinder, die daran ersticken, weil die Nuss genau in ihre Luftröhre passt). Selbst in Amerika, wo tonnenweise Erdnussbutter verzehrt wird, sind fatale Folgen der Erdnussallergie selten. Trotzdem haben amerikanische Fluggesellschaften die Erdnüsse von Bord verbannt. Welch ein Witz! Als ob amerikanische Flugreisen sicherer als das Knabbern von Erdnüssen wären.

Ein weiteres Problem der Allergieeuphorie besteht darin, dass der Volksmund jegliche Art von Überempfindlichkeit als Allergie bezeichnet. Nahrungsmittelintoleranzen sind keine echten Allergien, aber sie können zu ähnlichen Symptomen führen. Wer eine Laktoseintole-ranz hat, der muss Milchprodukte meiden. Das Gleiche gilt für die Gluten- oder Sucroseintoleranzen bis hin zu Intoleranzen gegen Medikamente wie Aspirin. Weil bei diesen Intoleranzen das Meiden des verursachenden Stoffs zur Symptomfreiheit führt, galt dies jahrelang auch als Dogma für die echten Allergiker.

Während des letzten Weltkrieges gab es offensichtlich keine Kartoffelallergiker, und solange Reis in Japan das fast ausschliessliche Grundnahrungsmittel war, gab es dort keine Reisallergiker. Bei einem Kind, das früher Kuhmilch nicht vertrug und deswegen schrie, tröstete man sich damit, dass es wenigstens starke Lungen bekommen würde. Die Mütter rannten deswegen nicht gleich zum Pädiater, der das arme Baby auf Sojamilch umstellte, damit es später eine Sojaallergie entwickelte.

Das massenhafte Auftreten von Allergikern liegt womöglich daran, dass kein Interesse besteht, die Häufigkeit auf ein vernünftiges Mass zu reduzieren. Allergologen und Hausärzte sind einem Gewissenskonflikt ausgesetzt. Ihnen kann es egal sein, ob der Patient ein echter Allergiker oder nur ein Simulant ist. Dem echten Allergiker kann er zwar mit Medikamenten und Therapien helfen, dem Simulanten nicht. Aber er verdient mehr an ihm bis er zur Alternativmedizin wechselt.

Genau dies tun die Simulanten früher oder später mit dem Argument, die Schulmedizin habe nicht geholfen. Im Schosse der Irrationalität nützen dann die abstrusesten Therapien wie etwa Bioresonanz, eine Art technischer Voodoo, oder sie schlucken Similasan und merken gar nicht, dass der Hersteller sich über sie lustig macht, da das Wort «Simulant» im Medikamentennamen steckt. Ich gebe zu, bei diesen Pseudoal-lergikern wirkt die Alternativmedizin, weil eine Einbildung mit jedem beliebigen Wässerchen therapierbar ist.

Auszug aus dem Beitrag von Beda M. Stadler in der Weltwoche 5/2009

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